Datteln. Eine katholische Grundschule hat die Aufnahme eines Jungen abgelehnt. Für den längeren Schulweg schlägt die Schulleitung einen Fahrdienst vor.

Wo Paul (Name geändert) ab August zur Schule geht, das weiß der Sechsjährige noch nicht. Seine Eltern haben ihn an der Lohschule in Datteln angemeldet, einer katholischen Bekenntnisgrundschule. Doch die Schulleitung hat die Aufnahme des konfessionslosen Jungen abgelehnt. Die Alternative: eine Gemeinschaftsgrundschule am anderen Ende der Stadt, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in etwa 25 Minuten zu erreichen. „Zur Lohschule wären es mit dem Schulbus drei Minuten gewesen“, ärgert sich der Vater. Er will die Absage nicht akzeptieren und legt Widerspruch ein.

„Wir haben fünf Kinder“, begründet der 45-Jährige sein Vorgehen. Erst vor Kurzem sei die Familie ins Ruhrgebiet gezogen, beide Eltern arbeiten als Ärzte in einem Krankenhaus. Zwei Kinder gehen noch in die Kita, zwei besuchen eine weiterführende Schule. „Die Erreichbarkeit der Kindergärten und Schulen mittels ÖPNV ist für uns entscheidend“, sagt der Vater.

Würde Paul ab August die vom zuständigen Schulamt für den Kreis Recklinghausen empfohlene Gemeinschaftsgrundschule besuchen, wäre er täglich 50 Minuten unterwegs. Für Grundschülerinnen und -schüler soll nach Angaben der Bezirksregierung Münster der Schulweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mehr als eine Stunde dauern – Hin- und Rückweg inklusive. „Die Fahrtzeit“, sagt der Familienvater, „ist gar nicht das Problem“. Viel schlimmer sei, dass der Erstklässler an dem vielfrequentierten Busbahnhof der Stadt umsteigen müsste. Das sei für einen Sechsjährigen, der noch nicht lesen könne und somit gar nicht wisse, in welchen Bus er steigen müsse, „unzumutbar“.

Fünf Kinder: Schulleitung schlägt Familie aus Datteln eine Nanny vor

Der Vater begründet seinen Widerspruch mit dem Vorliegen eines Härtefalls. Doch die Schulleitung sieht keinen Grund, den Jungen bevorzugt aufzunehmen: „Ein Härtefallkriterium liegt meines Ermessens im Handling von fünf Kindern nicht vor“, heißt es in einem Schreiben, das unserer Redaktion vorliegt. Des Weiteren sei „ein Schulweg mit dem Schulbus oder dem ÖPNV von 19-26 Minuten [...] auch für ein Schulkind nach einer elterlichen Hinführung machbar und möglich“. Andernfalls sollte, so die Schulleitung weiter, „die Möglichkeit bestehen, ein Fahrunternehmen, eine Nanny oder Haushaltshilfe zu initiieren und dies auch finanziell für die Familie in den genannten ärztlichen Positionen vertretbar sein“.

Als der Vater den Widerspruchsbescheid in den Händen hält, ist er fassungslos. „Diese subjektive und diskriminierende Behördenentscheidung halte ich für unerträglich“, sagt der 45-Jährige. Auch eine Ermessensentscheidung müsse „auf Fakten basieren“. Die Schulleitung und das Schulamt könnten nicht ohne Weiteres davon ausgehen, die Familie habe „das nötige Kleingeld“, um einen Fahrdienst zu organisieren, ärgert er sich.

Freie Schulwahl in NRW: „Dessen war ich mir nicht bewusst“

Während in vielen Bundesländern Familien – in Abhängigkeit vom Wohnort – eine bestimmte Grundschule vorgegeben wird, gilt in Nordrhein-Westfalen die freie Schulwahl. Das bedeutet, Eltern können sich frei zwischen allen Schulen im Stadt- bzw. Einzugsgebiet entscheiden. Immer wieder kommt es dazu, dass an einer Schule mehr Kinder angemeldet werden, als Plätze zur Verfügung stehen – so auch an der Lohschule.

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In dem Ablehnungsbescheid erklärt die Schulleiterin ihr Vorgehen: So hätten sich für das Schuljahr 2021/2022 96 Kinder angemeldet, 81 Kinder könne die Lohschule aufnehmen. Laut Schulgesetz darf die katholische Bekenntnisgrundschule vorrangig Kinder aufnehmen, die dem Bekenntnis angehören. Die übrigen freien Plätze werden mithilfe eines Auswahlverfahrens vergeben: Die Lohschule habe zunächst 37 Kinder katholischen Glaubens sowie 14 Geschwisterkinder berücksichtigt und die restlichen Plätze an Kinder vergeben, die in der Nähe wohnen. Die Grenze sei schließlich bei 1,3 Kilometern Entfernung gezogen worden.

Dass nicht die Dauer des Schulweges mit dem Bus sondern lediglich die Entfernung in Kilometern berücksichtigt wird, hält der Vater nicht für richtig. So könnten einige Kinder, die ab August die Lohschule besuchen, problemlos auch eine andere Grundschule mit dem Bus erreichen. Für Paul hingegen, der mit seinen Eltern und Geschwistern etwas außerhalb wohnt, sei die Lohschule trotz drei Kilometern Entfernung die einzige Schule, die gut erreichbar ist.

Klage vor dem Oberverwaltungsgericht

Die Familie hat vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen gegen die Ermessensentscheidung der Schulleitung geklagt, doch der Eilantrag sei abgelehnt worden. „Das Verwaltungsgericht hat sich allerdings nicht inhaltlich mit der Begründung des Schulamts auseinandergesetzt“, ärgert sich der 45-Jährige. „Daher haben wir Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht eingereicht.“ Der Vater rechnet in der nächsten Woche mit einer Entscheidung. Bis zum ersten Schultag sind es dann nur noch drei Wochen. Und noch weiß Paul nicht, in welchen Bus er steigen muss.

Das Schulamt für den Kreis Recklinghausen möchte sich aufgrund des laufenden Verfahrens nicht zu dem Fall äußern. Auch die Schulleitung stand für ein Gespräch nicht zur Verfügung.

Härtefall liegt im Ermessen der Schulleitung

■ Ein Härtefall ist nach Angaben der Bezirksregierung Münster „eine außergewöhnliche Sondersituation eines einzelnen angemeldeten Kindes“. Es müssen „gewichtige, individuelle Gründe“ vorliegen, die rechtfertigen, dass das Kind bevorzugt aufgenommen wird. Ob ein Härtefall vorliegt, liegt im Ermessen der Schulleitung.

■ In der Rechtsprechung anerkannte Härtefälle sind laut Bezirksregierung Münster etwa: Legasthenie und ADHS, erhebliche soziale, familiäre oder pädagogische Besonderheiten sowie der Tod eines Elternteils.