Essen/Düsseldorf. Eltern und Schüler zweifeln nach dem schwierigen Pandemie-Schuljahr an Aussagekraft der Noten. GEW appelliert an das „Feingefühl“ der Lehrkräfte.

Angesichts eines schwierigen Schuljahrs unter Corona-Bedingungen werben Bildungsexperten und Gewerkschaften um Verständnis und Wohlwollen bei der Bewertung der Noten im Schuljahreszeugnis. Die Umstände seien mit den Jahrgängen zuvor nicht vergleichbar, sagte die neue GEW-Vorsitzende Ayla Celik dieser Redaktion.

Durch den Wechsel von Distanz-, Wechsel- und Fernunterricht „konnten viele Kinder ihr Potenzial nicht ausschöpfen“. Zeugnisnoten seien immer abhängig von den Voraussetzungen in den Familien, so Celik. „Die soziale Schieflage hat sich durch die Pandemie aber weiter verschärft.“ Sie vertraue bei der Notenfindung auf das „Feingefühl“ der Lehrkräfte.

Schüler sehen keine gerechte Basis für Zeugnisnoten

Am letzten Schultag vor den Sommerferien erhalten die meisten der rund 2,5 Millionen Schülerinnen und Schüler in NRW ihre Jahreszeugnisse. Damit endet das Schuljahr 2020/21.

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Ginge es nach der Landesschülervertretung (LSV), wäre die Zeugnisvergabe in diesem Jahr komplett ausgefallen. „Klassenarbeiten wurden verlegt, eine Beteiligung am Unterricht war nicht möglich – auf welcher Grundlage wollen die Lehrkräfte die Leistungen der Schülerinnen und Schüler bewerten?“, sagt Xueling Zhou vom LSV-Vorstand. Manche Schüler hätten einmal pro Woche eine Aufgaben-Mail bekommen, andere hätten eine gute Förderung und perfekte Ausstattung. „Wie fair kann das sein?“, fragt die Schülerin.

Notenfindung in diesem Jahr besonders schwierig

Selten wurde die Zeugnisvergabe wohl so sehnlich und zugleich so ängstlich erwartet. Ein turbulentes und schwieriges Schuljahr geht endlich zu Ende. Und neben der schulischen Leistung dürften sich zugleich manche Probleme, Sorgen und Nöte dieses Corona-Jahres in den Noten niederschlagen. Denn die Folgen und Begleitumstände der Pandemie hatten zweifellos Einfluss auf die Noten vieler Schüler. Zensuren sollen ihre Leistungen erfassen, sie in einer Ziffer gießen und vergleichbar machen.

Ayla Celik, neue Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW in NRW.
Ayla Celik, neue Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW in NRW. © FUNKE Foto Services | Foto: Lars Heidrich

Daran gab es zwar schon immer Zweifel und Kritik, weil Noten nie objektiv und „komplett gerecht“ sind, wie Ayla Celik betont. Doch wie schwierig es ist, am Ende des Schuljahrs in Zensuren festzuschreiben, was die Schüler gelernt und verstanden haben, wird in diesem Jahr wohl besonders offensichtlich.

Unterschiedliche Lernbedingungen

Homeschooling, Wechselunterricht, Präsenzstunden, Video-Konferenzen – die Beschulungsformate wechselten sich zuweilen im Wochentakt ab. „Wir haben in den letzten Monaten erlebt, wie stark die Lernbedingungen von Familie zu Familie, von Klasse zu Klasse, von Kurs zu Kurs und von Schule zu Schule durch die Auswirkungen der Pandemie in vorher nicht gekanntem Ausmaß beeinflusst wurden“, sagt Ralf Radke, Vorsitzender der Landeselternschaft der integrierten Schulen (Leis) in NRW.

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Von fairen, gerechten und vergleichbaren Noten könne daher kaum die Rede sein. Einen „Corona-Makel“ hätten die Abschlüsse in diesem Jahr deshalb aber nicht, meint er. Der „Makel“ liege indes bei den Schülerinnen und Schülern, die ihren angestrebten Abschluss oder ihren gewünschten Notendurchschnitt nicht hätten schaffen können.

Eine „Fünf plus“ für die Schulpolitik

Radke schreibt der NRW-Schulpolitik im Pandemiejahr eine „Fünf plus“ ins Abschlusszeugnis. „Die Schulen haben funktioniert. Die Abschlussprüfungen sind über die Bühne gegangen“, so Radke. Im Pandemiejahr sei aber zugleich vieles an den Rand gedrängt worden. Stichworte sind Lehrermangel, Inklusion oder Luftfilteranlagen. Niemand wisse, unter welchen Bedingungen die Schulen im nächsten Schuljahr wieder starten können.

Die Schülerin Xueling Zhou, im Vorstand der Landesschülervertretung, ist kaum gnädiger und gibt der Schulministerin eine Vier minus - vor allem wegen der schleppenden Digitalisierung der Schulen. „Zeugnisse waren niemals fair“, sagt die 16-Jährige, aber in der Pandemie seien die Noten ganz besonders ungerecht. „Die Schere zwischen den sozial schwachen Kindern und den starken wurde deutlich größer.“

„Weder gerecht noch aussagekräftig“

Sie selbst erwartet die Zeugnisvergabe am Freitag mit einem mulmigen Gefühl. „Ich möchte studieren und brauche einen guten Notenschnitt. Wenn ich mit einem Corona-Zeugnis dastehe, frage ich mich, ob das reicht.“ Und wie die Lerndefizite im nächsten Jahr aufgeholt und Lücken gefüllt werden sollen, ist ihr ein großes Rätsel.

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Auch der renommierte Bildungsforscher Klaus Klemm zweifelt an der Aussagekraft der Noten auf dem Jahreszeugnis. Grundlage der Bewertung seien laut Schulgesetz schriftliche Arbeiten sowie „sonstige Leistungen im Unterricht“. Nach langen Phasen von Wechselunterricht und zum Teil ausschließlichem Distanzlernen sei „nicht erkennbar, wie Noten insbesondere die sonstigen Leistungen bewerten können“, so Klemm. Angesichts der unterschiedlichen Voraussetzungen in den Familien seien die Noten „weder gerecht noch aussagekräftig“.

Schülerinnen und Schüler erlernten neue Fähigkeiten

Andererseits würden die Zeugnisnoten neue Fähigkeiten, die die Schülerinnen und Schüler in der Pandemie-Zeit erworben haben, gar nicht berücksichtigen. „Kinder und Jugendliche haben in dieser Zeit – sehr unterschiedlich – ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation entwickelt. Sie haben Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien erworben, sie sind vielfach selbstständiger geworden“, meint Klemm. All das fließe in die Notengebung nicht ein. Auf lange Sicht glaube er nicht, dass die Schülerinnen und Schüler befürchten müssten, dass ihr Jahrgang als weniger leistungsfähig wahrgenommen werde.

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Auch GEW-Vorsitzende Ayla Celik warnt davor, diesem Jahrgang ein „Corona-Etikett“ anzuheften. „Das ist ein starker Jahrgang. Sie konnten nicht einfach Schüler sein wie frühere Jahrgänge.“ Sie standen unter Druck, machten sich Sorgen um ihre Zukunft, um ihre Familien, um ihre Gesundheit, dazu kam schulischer Stress, und manche litten unter Einsamkeit und fehlender Unterstützung.

Die Botschaft sollte lauten: „Ihr seid super!“

Die Botschaft dieser Zeugnisse müsse jenseits der kalten Notenziffern daher lauten: „Ihr seid super! Trotz aller Schwierigkeiten habt ihr das Jahr gut gemeistert“, meint Celik. Sie rät Eltern, Schülerinnen und Schülern: „Schaut nicht nur auf die Noten. Seid stolz auf das, was ihr in diesem harten Jahr geleistet habt.“