Mülheim. Das kleinste Pflanzen-Center im Revier: Wie ein bizarrer Mülheimer Modemacher verwegen die Corona-Krise mit richtig coolem Grünzeug umschiffte.
Mehr Natur in die Stadt zu bringen, ist im Ruhrgebiet ein Hype. Urbaner Gartenbau lässt auch Mülheim neu erblühen. Corona hat den Trend noch verstärkt. Vor der grünen Welle schwimmt Gordon Wienkötter von den „Garten-Piraten“: Der 48-Jährige Mode-Profi, den alle beim Vornamen nennen, verkauft seit Kurzem nahezu alles, was nachhaltig wächst und wurzelt. Ein Artikel aus dem E-Paper Ihrer Tageszeitung.
„Wir haben das angesagte Grünzeug!“, wirbt der Chef der Garten-Piraten. Als der Geschäftsmann im Herbst 2019 mit der Szene-Boutique „Mode Wichtig“ vom Rhein an die Ruhr zog, hätte er sich das nicht träumen lassen. „Nun führe ich das wohl kleinste Garten-Center im Pott.“ Ohne Corona hätte er seinen grünen Daumen vielleicht nie entdeckt, vermutet Gordon. Doch die Pandemie zwang ihn zum Kurswechsel. „Monatelang musste unser Modeladen in der Altstadt geschlossen bleiben.“ Zunächst nur probehalber bot er das Grünzeug vor dem Geschäft an, als Übergang im Lockdown. Aber die Pötte auf den hohen Rollwagen vor der Ladentür gingen praktisch weg wie warme Fischsemmeln.
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Auf die Minze gekommen
Dass die Garten-Piraten zu Corona im Grunde die eigene Boutique enterten, beruht auf einem Zufall. „Wir wollten privat einige Gartenkräuter für ein Hochbeet kaufen“, so Gordon. Zunächst heuerte der Waldmeister an. Dann kam er mit seiner Lebensgefährtin Lara Uecker auf die Minze. Allein die sei ja eine Wissenschaft für sich – mit rund 30 Arten in Geschmacksrichtungen von Orange und Schokolade bis Zitrone. Alle wachsen gern an feuchten Standorten. Neben ihnen ranken wie in besten Bergbauzeiten in Uromas Nutzgarten allerlei Gemüse und andere Kräuter aus Beeten oder Balkonkästen: neue Freiheit für Gurken, Tomate, Radieschen, Salat und Zucchini von Bochum bis Wanne-Eickel. Neben Geranien und Lavendel. „Die Leute wollen nicht nur Pflanzen, die schön aussehen. Gefragt ist vor allem Essbares oder alles, was der Umwelt nutzt.“ Was man nicht verzehrt, schmeckt vielleicht den Bienen. Mit jeder neuen Blüte und jedem grünen Zweig kämpfen die „Garten-Piraten“ gegen städtische Einöde und machen das Revier eine Idee bunter.
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Frische Kräuterbrise weht durch die Altstadt
Weht in der Bachstraße die schwarze Flagge mit dem lachenden Totenkopf und den Blumen auf dem Haupt, zieht eine frische Kräuterbrise durch die Altstadt. Die „Garten-Piraten“ mit dem coolen Grünzeug liegen vor Anker. „Gärtnern ist alles andere als spießig!“ findet Gordon. Drei gut bepackte Wagen voller Pötte jeder Größe warten freitags, samstags und sonntags auf Kundschaft. Nicht lange. Die Ware besorgen Gordon und Lara zusammen in einer Gärtnerei an der holländischen Grenze. Und lernen selbst bei jedem Einkauf dazu. Tomate Mozzarella schmeckt auch ihnen am besten mit selbst gezüchteten Früchten. Wie bei der Mode liebt das Paar Exklusives, kein Gemüse von der Stange. Hip seien alte Tomatensorten, findet Lara: die Schwarze Krim (flachrund, fleischig und groß) oder die fruchtig-süße Nonna Antonia aus dem Piemont. Aufgetaucht aus dem Meer der Vergessenheit ist zudem die feste und saftarme Ochsenherz-Tomate „Cuore di bue“. Echt lecker an heißen Sommertagen, auch mit Büffelmozzarella und Basilikum.
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Tomaten – Ahoi!
Von Grün bis Purpur, von mini bis gigantisch – Tomaten gibt es in allen Farben und Größen. Geschmacklich sind sie eine fette Beute mit dem weiten Spektrum eines Ozeans. Ohne dabei wässrig zu sein. Weltweit gibt es 10.000 verschiedene Sorten. Ahoi! Auch wenn es nicht alle nach Mülheim schaffen – im Garten, auf dem Balkon und selbst im Straßenbeet lässt sich die volle Pracht der Tomate ausleben. Die Garten-Piraten fischen mit wachsendem Vergnügen immer wieder neue Beute für die Kundschaft jeden Alters. Das Jung und Alt beim Pflanzenkauf zusammenfinden, freut Gordon. Und das urbane Gärtnern verbinde zudem die Kulturen.
Lara ist fasziniert von der Kraft der Kräuter. „Da haben wir uns richtig eingearbeitet“, sagt sie. Die Anregung kam von einer Apothekerin aus dem Viertel. „Sie kennt sich bestens mit der Heilwirkung aus.“ Ein Hausmittel gegen blaue Flecke unter der Haut sei das Curry-Kraut (Helichrysum italicum). Der mediterrane zwanzig bis fünfzig Zentimeter hohe Halbstrauch mit den Curry farbigen Blüten macht schon im Beet eine gute Figur. In der Apotheke oder in der Küche werden seine Blätter verarbeitet. Alle Pflanzenteile sind mit kurzen, silbrigen Haaren überzogen und duften wunderbar nach Curry. Ein Erlebnis für die Nase bietet schon der Einkauf. Gordon zeigt die Töpfchen mit Basilikum und Oregano. Salbei und Thymian lassen ihr Aroma verströmen. Auf einer Tafel ist „die Magie der Kräuter“ erklärt.
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Bienenfreundliche Pflanzen sind gefragt
Langeweile geht anders. „Jede Woche besorgen wir Neues“, verspricht Gordon. Auch Kundenwünsche nimmt der Piratenkapitän entgegen. Aloe vera, scharfe Chillies, Kiwis und Gewürze zum Grillen. „Vorsicht vor den fleischfressenden Pflanzen!“, scherzt Gordon. Derzeit viel gekauft werden Sonnenblumen und bienenfreundliche Stauden. Wer weder Garten noch Balkon hat, greift zur Mini-Kaktee für die Fensterbank. Pflege-Tipps gibt’s inklusive.
Kein Zweifel: Mit dem Grünzeug hat der Inhaber sein Ladenschiff aus dem Corona-Sturm in ruhige Gewässer gesteuert. „Pflanzen-Center waren ja im Lockdown privilegiert. Sie durften öffnen, als Klamottenläden noch lange zu bleiben mussten.“ Nun steht die Tür weit offen fürs neue Outfit im Gothic- oder Heavy-Metal-Style: Kleidung, Schuhe und Accessoires – Hauptsache ausgefallen. Damit handelt Gordon seit 30 Jahren, eröffnete das erste Geschäft als 18-Jähriger in der Duisburger City. 2019 ging er nach Mülheim. „Beim Falafelessen haben wir den leerstehenden Laden entdeckt und nicht lange gezögert.“ Das Geschäft schmeißen beide gemeinsam.
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Keine Angst vor einer weißen Wand
Der Sprung vom 200-Quadratmeter-Fashionstore zur 60-Quadratmeter-Boutique sei ihm leicht gefallen. „Der Zusammenhalt in der Nachbarschaft hier ist super. Und die Straßenbahn hält nur 50 Meter weiter.“ Die ehemals dunkle Spielhalle mit „puffrotem“ Teppich – „der ist sogar geblieben, fanden wir kultig“ – bekam ein helles Ambiente. „Dass ich mal eine schwarze Wand weiß streichen würden, hätte wohl kaum einer gedacht.“ Noch so ein grünes Wunder. Dabei sind schwarze Klamotten Gordons Markenzeichen.
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