Marl. Mount Everest? Auch nur ein Berg mit Schnee! An einem Gewerbegebiet in Marl-Sinsen hängen Sehnsuchtsmotive Grenzen überschreitender Radreisen.
Augen auf für die längste Ausstellung mindesten im Revier – ein sinniges Format, zeugen die Magnum-Motive entlang der Umzäunung in einem Marler Gewerbegebiet doch von weitesten Reisen in alle Welt. Per Rad! Auf dem Sattel saß Marco Stepniak, 45 Jahre alt und freiberuflicher Fotograf. Was nahelegt: Derjenige, der auf die Tube gedrückt hat, hat auch auf den Auslöser gedrückt. Und sich dabei den Hintern abgefroren, der sengenden Sonne ausgeliefert, und quasi als Vervollkommnung dieser ins Extreme getriebenen Bewusstseinserweiterung den Dalai Lama getroffen. Auch der geistliche Vater der Tibeter hängt nun im Stadtteil Sinsen mit Haken und Ösen am Gitter. Doch zum Erleuchteten im tiefsten Kohlenpott später mehr...
Mit Hass und Hefebällchen
2002 begann Stepniak, für alle und auch gerne hier: der Steppe, seine erste Tour eigentlich nur als Ersatzfahrer für den Vater von Kumpel Quincy. Ein knappes Jahr und 18.500 Kilometer später war er am Ende in Kuala Lumpur. Also, die Hauptstadt Malaysias war nicht das Ziel, nur der Steppe war am Ende. Fix und fertig. So wie auf seinem Lieblingsbild sein Mitstreiter, längs legte es den nieder, mitten auf der Autobahn irgendwo in Kasachstan, bei 50 Grad plus und ohne Wasser. Dank einer ähnlichen Grenzerfahrung entstand auch der Titel des Projekts. Als es drei Tage im tibetischen Tingri ausschließlich schiebend durch ein steiniges Flussbett ging – es sollte bloß ein kleiner Umweg über 50 Kilometer sein, es gab noch einen Lolli und zwei Hefebällchen als Etappenration, es musste nachts das Eis von den Reißverschlüssen gekratzt werden – zum nördlichen Basislager des höchstes Berges der Welt, entfuhr dem Geschlauchten diese Erkenntnis: „Der Mount Everest ist auch nur ein Berg mit Schnee.“ Erinnert er sich heute mit doch einigem Abstand daran, kommt es immer noch hoch: „Ich hab vielleicht einen Hass gehabt und wollte es einfach nur noch warm haben.“
Ob Schweiß oder Schnee
Erinnerungen verblassen dennoch, die Tagebücher aber nicht. Authentisch mit allen Schlagfehlern von damals, ob im Schweiß oder im Schnee, erklären sie auszugsweise auf kleinen Texttafeln, mit einer Lagekarte, was auf 20 der insgesamt 72 großen Lkw-Planen (1,80 Meter bis 3 Meter lang) zu sehen ist. Würde Quincy das nochmal nachlesen, den Eintrag von Donnerstag, 11. Juli 2002, es war der 111. Tag, dann wäre er gewarnt gewesen: „Bloß nicht Kasachstan, sagten alle“, so steht es geschrieben mit dem Kuli der Vernunft, das Ergebnis ist bekannt, siehe oben. Witzig weiter geht es aber: „Dann wurden wir mit zwei Autos bis zur nächsten Polizeistation geleitet. Auf dem Weg fiel hinter uns ein Auto auseinander und ein Reifen überholte uns. (…) Nur wenig Wind.“ Das Kapitel „Steppe hat Magenprobleme“ überspringen wir hier einfach mal. Immerhin: Straßenbelag und Stimmung bekommen die Note zwei minus.
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Das war nicht immer so, wie man sich denken kann, vor allem wenn ein Kapitel beginnt mit „Seuchentag!“ Stichwort: offener Ellenbogen („suppt wie Sau“); wie das manchmal so ist beim Anfahren im Sand mit Klickpedalen und einem 60-Kilo-Trum mit Reifen. Nett eigentlich dies, aber vielleicht nicht ständig: „Dann hören wir zum 1millionsten Mal die gleiche Frage: Ad ku da, woher seid ihr? Germania! Ah, i ku da? Almata! Skolka den? 4 Monate lang…“
Eskapismus in Pandemiezeiten
Neben den persönlichen Befindlichkeiten gibt es an den XXL-Bildern auch einfache Beschreibungen wie: „Fröhlicher Nomadenjunge auf einem Yak“, so im Dorf Tuo Tuo He in der Provinz Qinghai – und wem das jetzt kein Fernweh verursacht, dem ist auch nicht zu helfen. Oder braucht es zum gepflegten Eskapismus in Pandemiezeiten noch ein paar Sehnsuchtsorte aus insgesamt 30 bereisten Ländern? Wolgograd, Aralsk am Aralsee, das Indianerdorf Urubicha in Bolivien, die Städte Daman in Nepal oder Holguin in Kuba, das westbengalische Balurghat; natürlich alles von nachfolgenden Radreisen bis heute. Nun, nicht ganz, da war ja was. „Wegen Corona ist Uganda ausgefallen“, spricht Steppe einen Satz gelassen aus, den wohl jeder von uns kennt.
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Das verdammte Virus! In die Ausstellung immerhin kommt es nicht rein, komplett öffentlich zugänglich ist der einen Kilometer lange Zaunkurs, dem Sujet angemessen mit dem Fahrrad (immerhin führt dort der Radweg der Sinsener Runde und der Wanderweg des Deutschen Alpenvereins entlang), zu Fuß oder auch aus dem Auto heraus rund um die Wallstraße. Dazwischen hat Steppe von den anliegenden Gewerken – Schreinerei, Steinmetz, Tierarztpraxis oder, touché, einem Fahrradhändler etwa – Motive drapiert. „Ich möchte auch die Menschen hinter den Gewerbezäunen und ihre Arbeit sichtbar machen und zeigen, wie und was sie produzieren oder vertreiben.“ Denn auch die Aufnahmen von unterwegs zeigen – außer Landschaften und Begegnungsstätten – eben Leute, die mit eigenen Händen und oft improvisiertem Werkzeug etwas herstellen, zum Leben, zum Überleben.
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Die Aktion ist übrigens ein Stipendiatenprogramm für Freischaffende aus dem Stärkungspaket Kunst und Kultur der Landesregierung NRW und zunächst auf drei Monate angelegt, verlängerbar als Wanderausstellung. Mit dieser Bewerbung konnte Steppe überzeugen: „Sehnsüchte stillen, imaginär weltweite Grenzen überschreiten, Menschen miteinander verbinden, Neues im Lebensumfeld entdecken und wenig attraktive Orten sichtbar, lebendig und einladend machen: All das möchte ich mit meinem Projekt erreichen.“
Manchmal zu faul zum Anhalten
Dass die frühen Fotos teils etwas körnig ausfallen, liegt an der „Gammel-Sucherkamera“, einer Canon 1 aus jener Zeit, doch Digitalkameras sind nun mal leichter zu transportieren und „mit 50 Filmen ist die Satteltasche halb voll, das muss man ja immer alles mitschleppen“. Deswegen genießt die Serie auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder gar Perfektion: „An den besten Kulissen sind wir bestimmt vorbeigefahren, weil wir manchmal einfach zu faul zum Anhalten waren.“
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Auch wenn ein Bild mehr als 1000 Buchstaben sagt, wie es so schön heißt, sind die Anmerkungen durchaus hilfreich. Dafür holte sich Steppe, der ebenfalls lieber die Knipse sprechen lässt, Hilfe von der Journalistin Sabine Bömmer. Die Münsteranerin ist nicht nur mit Worten voll dabei: „Die Corona-Pandemie erschwert das freie weltweite Reisen und macht es teilweise unmöglich. Die Sehnsucht danach bleibt. Als Folge entdecken Menschen ihre Heimat, Städte und ihre Stadtteile, Regionen und Landschaften vor Ort neu, am liebsten mit dem Fahrrad.“ Sie will als Mitbegründerin und Vorstandsmitglied des Vereins „International Campaign for Tibet“ (ICT) eine Stimme des friedlichen Widerstands des tibetischen Volkes sein und war auch diejenige, die den Kontakt zum Dalai Lama herstellte.
Und, wie war er so, der mystische Meister? Steppe nach einer der Begegnungen in Dharamsala, im indischen Bundesstaat Himachal Pradesh, Sitz der tibetischen Exilregierung: „Ein lockerer Typ, ganz ruhig, durchaus lustig und sehr zugewandt. Ich habe ja durch meinen Job schon alle möglichen Prominenten getroffen, aber die meisten davon bedeuteten mir im Gegensatz zu ihm nichts.“
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