Essen. Der Profi-Fußball hat in der Corona-Pandemie bewiesen, dass er auch ohne Fans auskommt. Anhänger wie Thomas Richter drehen den Spieß nun um.

Mit dem ersten Gruppenspiel gegen Weltmeister Frankreich startet die deutsche Nationalelf am Dienstag in die EM. Es wird das erste Mal seit 1978 so sein, dass ich bei einem großen Fußball-Turnier nicht mitfiebern werde – weder im Stadion noch daheim vor der Glotze oder mit Freunden im Biergarten beim Public Viewing. Dieser selbst gewählte Verzicht ist das Ergebnis eines schleichenden Entwöhnungsprozesses, der mit Beginn der Corona-Pandemie eingesetzt hat. Der Profi-Fußball und ich, wir sind uns fremd geworden.

Wie es einst war

Idol aus Kindheitstagen und ein Grund, um als Sechsjähriger Fan von Borussia Mönchengladbach zu werden: der dänische Stürmer Allan Simonsen (oben).
Idol aus Kindheitstagen und ein Grund, um als Sechsjähriger Fan von Borussia Mönchengladbach zu werden: der dänische Stürmer Allan Simonsen (oben). © dpa Picture-Alliance / SVEN SIMON

Infiziert wurde ich bereits zu Grundschulzeiten. Als Sechsjährige rannten wir in jeder Pause nach draußen, um mit einem verfilzten Tennisball zu kicken. Als Torpfosten dienten zwei zerbeulte Cola-Dosen. Mein Held zu dieser Zeit war: Allan Simonsen. Der Däne schoss die Borussia aus Mönchengladbach in den glorreichen 70ern zu mehreren Meistertiteln. Seitdem trage ich nicht nur die Raute als Emblem dieses Vereins im Herzen, sondern habe gefühlt in den Jahrzehnten danach auch so gut wie keine Ausgabe von „Sportschau“ und „Sportstudio“ mehr verpasst. Selbst die Experimente der Privatsender in den 90ern wie „Anpfiff“ oder „Ran“ machte ich klaglos mit. Mein Wochenende, es stand stets ganz im Zeichen des Fußballs.

Und entsprechend groß waren auch die emotionalen Auswirkungen. Verlor mein Herzensverein, war die Laune für mehrere Tage im Keller. Doch egal, wie es ausging: Immer studierte ich akribisch alle Mannschaftsaufstellungen, kannte den gesamten Spielplan so gut wie auswendig und entwickelte ein fast fotografisches Gedächtnis für Ergebnisse und Statistiken.

In frühen Teenager-Tagen folgten dann auch die ersten Stadionbesuche. Meine Premiere: Gladbach gegen Schalke im Jahr 1981. Damals noch am altehrwürdigen Bökelberg. Dazu trat ich ab der E-Jugend selbst in einem Verein vor die Kugel, machte mit 15 meinen Schiedsrichter-Schein und erwarb später im Rahmen meines Studiums an der Deutschen Sporthochschule in Köln auch die erste Trainer-Lizenz.

An jedem Samstag bestimmte die Bundesliga-Konferenzschaltung im Radio meinen Tagesablauf. Und die Sonntage verbrachte ich damit, auf den Videotext-Tafeln des WDR Resultate und Tabellen von der dritten Liga bis hinab in die Bezirksliga zu checken. Zudem bin ich Besitzer einer Fußballtrikot-Sammlung mit 300 stofflichen Raritäten von Vereins- und Nationalmannschaften. Sie merken, ich konnte stets bedenkenlos einstimmen in den Song „Fußball ist unser Leben.“

Wie es heute ist

Die Leidenschaft vergangener Jahrzehnte ist verflogen und einem gepflegten Desinteresse gewichen. Diese Entwicklung hatte sich bereits seit längerem abgezeichnet. Die Gründe? Nun, es begann damit, dass in der Bundesliga der Kampf um die Meisterschale einen tragischen Tod gestorben ist. Mittlerweile neunmal nacheinander thronte Bayern München nun schon auf Platz eins der Abschlusstabelle – oft standen diese Triumphe bereits Monate vor dem Saisonende fest. So einseitig und langweilig waren die Titelrennen.

Eine Meisterschaft ohne echten Wettbewerb ist aber das Schlimmste. Denn einen Großteil seiner Faszination bezog der Fußball zuvor aus der Tatsache, dass vor dem Anpfiff eben nicht feststeht, wer am Ende Sieger sein wird. Nun sind es immer dieselben. In der nächsten Saison werden die national schier unbesiegbaren Bayern den Serien-Rekord des BFC Dynamo Berlin einstellen, der vor dem Mauerfall zehn Mal in Folge DDR-Meister war. Die Vorhersehbarkeit als absoluter Emotionskiller.

Bezahlsender wie DAZN zahlen immer gigantischere Beträge, um sich die Übertragungsrechte für die Live-Spiele in der Bundesliga und für die Europapokalwettbewerbe zu sichern.
Bezahlsender wie DAZN zahlen immer gigantischere Beträge, um sich die Übertragungsrechte für die Live-Spiele in der Bundesliga und für die Europapokalwettbewerbe zu sichern. © dpa Picture-Alliance / Weiss /Eibner-Pressefoto

Was mich am Profi-Fußball der Gegenwart sonst noch verärgert? Vieles! Immer mehr Top-Stars der Branche kassieren über 20 Millionen Euro pro Jahr – und feilschen bei der nächsten Vertragsverlängerung trotz dieser unerhörten Summen dennoch um eine weitere Gehaltserhöhung. Die 36 Vereine der ersten und zweiten Liga bekommen addiert 1,1 Milliarden Euro TV-Gelder ausgeschüttet. Pro Saison! Laut Internationalem Währungsfonds entspricht das in etwa dem Bruttoinlandsprodukt von Samoa oder den Komoren.

Bezahlsender wie Sky oder DAZN haben sich mithilfe astronomischer Summen die Rechte für die Live-Übertragungen gesichert. Das spült zwar immer mehr Kohle in die Kassen der Klubs. Die Dummen sind aber die Fans: Sie müssen tiefer in die Tasche greifen und noch mehr TV-Abos abschließen, um alle Spiele in der Liga und im Europapokal verfolgen zu können. Geboten bekommen sie dafür meistens eine durchchoreographierte Fußballshow, die ihr teuer erkauftes Produkt marktschreierisch anpreist und sie zur absoluten Spitzenware hochjazzt. Mit der Realität und einer auf dem Platz oft anzutreffenden Mittelmäßigkeit hat diese Präsentation nichts mehr zu tun. PR statt Journalismus.

Allzeit-Tiefstwerte bei den TV-Einschaltquoten für die deutsche Nationalelf

Millionenbeträge verdient auch der DFB an jedem Länderspiel der deutschen Elf. Sponsoren und die Fernsehsender zahlen bei jeder Übertragung üppige Summen. Und das, obwohl auch dort seit Jahren eine negative Entwicklung eingesetzt hat. Die Stimmung im Stadion bei Spielen „der Mannschaft“ wirkt gekünstelt, ja fast aseptisch. Der gesamte Ablauf vor dem Spiel wird nach einem strengen Fahrplan inszeniert. Platz für spontane Fangesänge vor Anpfiff? Bleibt kaum. Auch während des Spiels wird nur noch selten lautstark und hoch emotional angefeuert, stattdessen gern stillschweigend konsumiert. Das Höchste der Gefühle ist rhythmisches Klatschen – so wie zu Boris Beckers Zeiten bei Tennisevents. Zum Davonlaufen.

Entsprechend haben Alt-Fans wie ich die Lust auf Länderspiele verloren. Die Zuschauerzahlen waren schon in Vor-Corona-Zeiten so stark zurückgegangen, dass die meisten Heimpartien in kleinere Stadien verlegt wurden, damit die klaffenden Lücken auf den Tribünen bei den Fernsehübertragungen nicht zu sehr auffielen. Auch die Einschaltquoten im TV erreichten Allzeit-Tiefstwerte. Kickte die Nationalelf früher irgendwo in NRW, bin ich garantiert hingefahren und habe mir Karten besorgt. Zur Not sogar „für teuer Geld“ auf dem Parkplatz – so wie beim WM-Halbfinale 2006 in Dortmund beim Halbfinal-Drama zwischen Deutschland und Italien. Damals habe ich trotz des 0:2 nach dem Abpfiff aus voller Kehle „You’ll Never Walk Alone“ mitgesungen, um Ballack, Klose, Poldi & Co zu trösten. Heute schalte ich nicht mal mehr den Fernseher ein.

Und dann kam Corona

Der Anfang vom Ende: Das erste „Geisterspiel“ in der Fußball-Bundesliga aufgrund der Corona-Pandemie fand im März 2020 zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln statt. Die Heim-Elf gewann 2:1. Und die Fans blieben seitdem außen vor.
Der Anfang vom Ende: Das erste „Geisterspiel“ in der Fußball-Bundesliga aufgrund der Corona-Pandemie fand im März 2020 zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln statt. Die Heim-Elf gewann 2:1. Und die Fans blieben seitdem außen vor. © dpa | Roland Weihrauch

Der Tropfen, der mein bereits randvolles Desinteresse-Fass zum Überlaufen brachte, war dann das Corona-Virus. Es begann alles mit dem ersten „Geisterspiel“. Das bestritten im März 2020 ausgerechnet „meine“ Borussen aus Mönchengladbach und der 1. FC Köln. Das rheinische Derby also. Ich saß mit zwei Freunden vor dem TV-Bildschirm. Und erstarrte. Die Tribünen im Stadion? Völlig verwaist! Die Stimmung? Unter null! Obwohl es sich aus Rivalitätsgründen um unser „Spiel des Jahres“ handelte, wirkte die Veranstaltung wie die Übertragung eines Kreisligakicks von der Bezirkssportanlage in Hückelhoven. Trist. Traurig. Testspielcharakter. „Wir“ gewannen mit 2:1. Ich fühlte – nichts!

Nach diesem desillusionierenden Abend stand für mich fest, dass ich so lange keine Bundesliga mehr gucke, bis wieder die Zuschauer im Stadion mit dabei sein dürfen. Besonders bitter stieß es mir auf, dass die Vereine ihr Ding aber auch ohne Fans einfach so durchzogen. Alle Fußball-Romantiker bekamen in ihrer Leichtgläubigkeit schonungslos aufgezeigt, dass sie als Stadiongänger eben nicht unverzichtbar sind. Sondern entbehrlich.

Fassungslos war ich auch, als sich fix abzeichnete, dass ein Drittel der 36 Erst- und Zweitliga-Klubs „pleite“ gegangen wäre, wenn sie damals nicht hätten weiterspielen dürfen. Trotz der Milliardensumme, die jährlich in das System gepumpt wird. Unfassbar! Was danach folgte: nicht nur ein Saisonendspurt ohne Publikum, sondern danach sogar noch eine weitere Saison ohne Fans und Stimmung im Stadion.

Wie es sein wird

Uefa-Präsident Aleksander Ceferin mit dem EM-Siegerpokal im Vordergrund. Er setzte alle EM-Städte im Vorfeld massiv unter Druck, damit sie bei dem Turnier trotz der anhaltenden Corona-Pandemie Zuschauer in die Stadien lassen.
Uefa-Präsident Aleksander Ceferin mit dem EM-Siegerpokal im Vordergrund. Er setzte alle EM-Städte im Vorfeld massiv unter Druck, damit sie bei dem Turnier trotz der anhaltenden Corona-Pandemie Zuschauer in die Stadien lassen. © AFP | Andreas Solaro

Und nun also die EM. Trotz Pandemie beharren die Verantwortlichen darauf, sie in elf Ländern auszutragen. Die 24 Teams jetten Tausende Kilometer kreuz und quer über den Kontinent. In Zeiten einer indischen Virus-Variante, die hoch ansteckend sein soll und auf der britischen Insel die Inzidenzzahlen bereits wieder zurück in gefährliche Höhen treibt, ähnelt dies einem Russischen Roulette. Spanier und Schweden beklagen bereits erste Corona-Fälle. Die berühmt-berüchtigte „Quarantäne-Blase“, sie wird allein bei über 600 teilnehmenden EM-Spielern in den vier Turnierwochen wohl gleich mehrmals platzen.

Zu verantworten hat auch das der Uefa-Präsident Aleksander Ceferin. Der forderte vor einigen Wochen – mitten in der heißen Corona-Phase – übrigens ganz dreist eine Garantie aller EM-Gastgeberstädte, dass sie doch bitteschön auf jeden Fall Publikum in ihren Stadien zuzulassen hätten. Egal, wie hoch die Inzidenzwerte auch sein mögen. Im Alltag würde man so etwas vermutlich „Erpressung“ nennen. In der Fußball-Branche wurde es hingegen fast widerstandslos geschluckt. Bilbao und Dublin verloren so ihren Spielort-Status. München kam soeben noch davon. Der eigentlich notwendige Aufschrei der Entrüstung in der Öffentlichkeit, aber auch bei den politisch Verantwortlichen der Teilnehmerländer blieb weitestgehend aus. In meinen Augen eine Bankrotterklärung – und der nächste Schritt auf meinem unaufhaltsamen Entfremdungsweg.

Der Bundesliga-Spielplan könnte noch schlimmer zersplittert werden

Auch für die Bundesliga befürchte ich Fürchterliches. Wie etwa die weitere Zerstückelung des Spieltags. Schauen Sie nur mal nach Spanien: Da gibt es in einer Liga mit 20 Teams pro Spieltag zehn Spiele. Und inzwischen genausoviele Anstoßzeiten. Das bedeutet: Jede Partie läuft zeitlich exklusiv. Das honorieren die Pay-TV-Sender mit noch mehr Geld. Ich würde mich nicht wundern, wenn auch die deutschen Topclubs diese zusätzliche Geldquelle bald anzapfen wollen. Es wäre das Ende der liebgewonnen Konferenzschaltung.

Zum Abschluss noch ein versöhnlicher Gedanke: Wissen Sie, was mir meine selbst auferlegte Profifußball-Abstinenz gebracht hat? Ein großes Plus an zusätzlicher Freizeit! Die Tage lassen sich prima auch für andere Dinge nutzen. Etwa selbst Sport zu treiben, statt Millionären dabei zuzuschauen. Probieren Sie es ruhig mal aus. Sie werden überrascht sein, wie schnell man den Spitzenfußball nicht mehr vermisst…

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