Ruhrgebiet. Wann machen die Geschäfte zu? Aus Angst vor einem schnellen Lockdown drängen die Menschen am Samstag zum Weihnachtseinkauf in die Innenstädte.
Der Trompeter auf dem Westenhellweg spielt „Oh du Fröhliche“, aber da ist nichts Fröhliches in der Dortmunder Fußgängerzone am Samstagmittag. Die Gesichter vom Stress gespannt, die Füße im Stechschritt, so eilen, rennen, hetzen die Menschen durch den Advent, typische Weihnachtseinkaufe an langen Armen: Kinderspielzeug, Parfüm und Unterwäsche, jemand schleppt eine Fritteuse.
„Die Leute werden kaufen, kaufen, kaufen“, haben sie gesagt, wer weiß, wie lange das noch geht. Alle, die eigentlich den Einzelhandel stützen wollten, die nicht online ihre Geschenke besorgten bislang, die sind jetzt gekniffen: Wann kommt der Lockdown, den nicht nur die NRW-Landesregierung will: Montag schon? Mittwoch? „Bin heute aufgewacht mit dem Gedanken“, keucht ein Mann ins Handy, „hinterher stehen wir da. Dachte… lieber schnell.“ Er hat schon drei schwere Tüten in der Hand.
Der Lockdown droht: Nicht nur Männer kaufen eilig Weihnachtsgeschenke
Es sind viele Männer wie er oder wie Marc aus dem Radio: „Ich bin sonst immer last, last, last minute.“ Die Sorte, die in normalen Jahren am Heiligen Abend noch in die Stadt rennt. Und die nun schon heute, am Samstag vor dem dritten Advent, kleine Papiertüten trägt in den großen Händen, mit darauf den Namen von Parfümerien und Boutiquen für Lingerie. Ist heute schon „Last minute“? Vor solchen Geschäften sind die Schlangen am längsten, es gibt auch einen Einpack-Service, im Centro Oberhausen warten hier am Morgen schon 21 – nicht nur Männer.
Die Anzeige mit den freien Parkplätzen läuft rückwärts wie ein Countdown, nur schneller. Eben noch 42 freie Plätze in Parkhaus 1, schon nur noch 3. Die Warteschlange vor dem Schmuckgeschäft wächst, sie zieht sich bis vor den Modeladen, versperrt dort die Tür. Das macht aber nichts, es ist Zara und außerdem noch nicht einmal elf: „Wer zu Zara will, will eben nicht zu Sinn“, sagt Center-Manager Marcus Remark, der weiß, dass junge Menschen erst am Nachmittag kommen, weil sie lieber ausschlafen.
„Voll ist schlimm, leer wäre auch schlimm“: Andrang im Centro
Aber das ist ein Problem. „Zu viele Menschen kommen gleichzeitig“, sagt Remark, den das in anderen Zeiten beglückt hat, aber „dass ich mich freue über volle Läden, ist absolut vorbei“. Am liebsten wären ihm „immer fünf weniger, als ich darf“, also nachgerechnete 6750 Kunden, ungefähr, aber, ach, wie „naiv“. „Voll ist schlimm, leer wäre auch schlimm“, etwas hilflos steht der Chef mit seiner Maske mitten im Treiben, sagt spontan Dinge, die er in der Zeitung dann doch lieber nicht lesen will.
Deshalb nur so viel: Die vagen Andeutungen eines kommenden Lockdowns hält er für „unverantwortlich“, „entweder nennt man ein Datum oder nicht“. Ministerpräsident Armin Laschet hat gesagt, er will keine Hamsterkäufe, Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann drohte Kontrollen an, aber was tun die Menschen, die ihre Weihnachtsgeschenke noch nicht zusammen haben? „Die Leute“, sagt Remark, „sind in Aufruhr.“ So viele „todsichere Tipps“ hat er bekommen, wann alles dicht geht, er selbst hat „Oh mein Gott, keine Ahnung“. (Und wir reden am Samstag womöglich von Übermorgen.)
Ordnungsamt und Polizei kontrollieren im Auftrag der Landesregierung
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Die Kunden wissen es auch nicht. „Wir lassen uns überraschen“, sagt eine Würstchenverkäuferin in Dortmund. „Aber die Leute sind verärgert.“ Das liegt hier allerdings auch an der Wurst. 50 Meter müsste man weitergehen, sie zu verzehren, aber da ist schon der Kartoffelstand. Und dort die Pommesbude und hier der Kaffeeausschank, wo soll man denn hin? Wie man sich auch dreht und wendet, der Abstand reicht nicht, auch nicht zwischen den Menschen. Vor dem Rathaus sammeln sich gerade zehn Polizeiwagen und mehr als 30 Mitarbeiter von Polizei und Ordnungsamt, sie werden gleich ausschwärmen. So schnell kann keiner seine Bratwurst essen, seine Zigarette rauchen, seine Nase putzen; irgendwas ist ja immer, warum man die Maskenpflicht gerade mal aussetzen muss.
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Im Centro gibt es auch Kaffee, man darf ihn nur nicht trinken. Es gibt zudem Masken allüberall, ein echter Renner, heute auch mit Weihnachtsmotiven und so „dehnbar“ wie die gerade geltenden Corona-Regeln. Vor der Kosmetik-Filiale reicht eine Mitarbeiterin Desinfektionsmittel durch die Reihen, das Gefühl erinnert an die Achterbahn im Freizeitpark: „Ab hier noch eine halbe Stunde.“ Zwischen den aufgeklebten Linien – auch der Lautsprecher mahnt zwischen den Weihnachtsliedern zu 1,50 Metern Abstand – sind Kunden zusammengerückt. „Bitte halten Sie sich an die Linien“, bittet ein Sicherheitsmann sehr höflich. „Mach mal Punkt!“, schreit ein Mann zurück, „Schluss! Schluss! Schluss!“ Menschen fliehen vor seiner wütend verteilten Spucke, der Händler wird das Nachsehen haben.
Sind Weihnachtsbäume eigentlich vom Lockdown betroffen?
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In die Parfümerie dürfen zwölf Kunden, in den Klamottenladen 142, zu den Sportschuhen 30, vorm Computer-Fachhandel wird Fieber gemessen. Die Schlange vor dem Buchladen ist noch länger als die vor Saturn, und die misst schon sicher 40 Meter. Aus einem Spieleshop schaut der Verkäufer: „Eine Einzelperson darf rein, am besten aufteilen!“, ruft der Mann zu den Wartenden. Aber die rühren sich nicht. Sie sind alle zu zweit da. Niemand lächelt. Ein Kleidungsgeschäft behauptet „Wir sind weiter für sie da“, obwohl das niemand mehr wissen kann. Eines für Sportartikel wirbt mit einer „Auszeit“, in Klammern steht ein R davor: Rauszeit. Das trifft es.
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Und was ist eigentlich mit Weihnachtsbäumen? Lebenswichtig? Systemrelevant? Der Verkäufer in Oberhausen weiß es selbst nicht. „Ich gehe heute mit meiner Frau“, sagt er. „Sonst haben wir am Ende keinen Baum.“ Und apropos: Was ist eigentlich mit den Baumkerzen??? Ein Straßenmusiker spielt den „Redemption Song“, aber Erlösung ist nicht in Sicht.
Warme Pullover in der Tüte – wer weiß, wie lange die noch zu kaufen sind
Celina sagt sogar, sie habe „richtig Angst“. Wenn jetzt alle Läden zumachen… Die 16-Jährige hat mit Freundin Roberta aus Lünen noch schnell Geschenke für die Eltern gekauft und für sich „ein paar warme Pullis. Wer weiß, wann man die wieder kriegt.“ Im Geschäft kann man die wenigstens anprobieren, im Internet nicht. Obwohl, wofür braucht man warme Pullover, „wir müssen ja zuhause bleiben. Aber man braucht ein bisschen soziales Leben.“ Weshalb sie es auch doof finden, dass die Schule zumacht, noch vor den Geschäften.
Wer soll noch kommen, wenn die Läden zu sind?
Bei „Claudis Reibekuchen“ auf dem Markt gibt es heute auch Linsensuppe, besorgt schauen zwei Händlerinnen aus ihrer Bude: „Ich hab’ noch nichts gehört.“ – „Aber wenn die Geschäfte hier alle...“ – „Wenn Karstadt schließt...“ Wer soll dann noch kommen in die Innenstadt, ob er nun Kartoffelpuffer oder Suppe will?
Abseits der Fußgängerzone wird ein Laden nächste Woche schließen, so oder so, aber auch wegen Corona: „Einzelhandel adieu“, steht im Schaufenster, „letzter Verkaufstag 19.12..“ Doch nun hat das Geschäft heute schon zu – samstags ist immer Ruhetag. Ausgerechnet.