Essen. Der Schweizer Architekt Thomas Sevcik begründet im WAZ-Videotalk seine provokanten Thesen – und fordert eine Renaissance der Städte.
Will das Ruhrgebiet erfolgreich sein, schafft es sich besser ab. Die Städte könnten sich dann auf sich selbst besinnen. Und den großen Revier-Institutionen wie dem Regionalverband RVR oder dem Initiativkreis Ruhr nimmt man ihre Macht – oder zerschlägt sich gleich komplett. Nicht unwahrscheinlich, dass sich der Schweizer Architekt und „Stadtstratege“ Thomas Sevcik mit seinen Ideen zur Zukunft des Ruhrgebiets hierzulande nicht nur Freunde macht. Wohl auch deshalb gibt Sevcik im Videotalk mit WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock gleich zu Beginn den Versöhner. Bekennt, dass er „privat“ sehr wohl ein großer Fan des Ruhrgebiets sei. Und beruft sich überdies auf das Gesetz jedweder Hingabe: „Was man kritisiert, das liebt man eigentlich.“
„Der Ruhrgebietsmythos ist auserzählt“
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Thomas Sevcik kennt sich aus mit Metropolen, wie sie das Ruhrgebiet so gerne eine sein möchte. Er studierte Architektur an der TU Berlin, lehrt am Central Saint Martins College of Arts and Design in London, arbeitet in Zürich und lebt zweitweise in Los Angeles, Kalifornien. Sevcik entwickelt mit seinen Beratungsbüros Ideen für große Immobilienprojekte, urbane Distrikte und Stadtquartiere. Die Autostadt von Volkswagen in Wolfsburg geht inhaltlich auf sein Konto, ebenso Expo-Pavillons und das Innovationszentrums „LabCampus“ am Flughafen München. Auch die Stadt Duisburg hat er bereits betreut. Mit dem Ruhrgebiet beschäftigt sich der 53-Jährige ohnehin seit Jahren. Deswegen weiß er sehr genau, in welche Fettnäpfchen man hier treten kann – und im Zweifel muss, wenn man gehört werden will.
Als Ballungsraum nichts Besonderes
Zunächst aber verteilt Sevcik rote Rosen für diese „hochinteressante Stadtlandschaft“, die „nebenbei auch schön und spannend“ ist. Und natürlich ist dem eigens für die Aufzeichnung des WAZ-Talks aus Zürich nach Essen eingeflogenen Schweizer die Schwere der Bedeutung des Ruhrpotts als Teil der deutschen DNA bewusst. Doch genau damit müsse jetzt Schluss sein, fordert er. „Der Ruhrgebietsmythos ist auserzählt“, sagt Sevcik.
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Jahrzehntelang habe dieser Mythos von Kohle, Kumpeln und Stahl als „Über-Erzählung“ einer ganzen Region funktioniert - auch noch während des Strukturwandels. Inzwischen aber bremse der Mythos die Region aus. Sevcik: „Das Thema wird nostalgisch immer wieder aufs Neue verklärt. Das ist rückwärtsgewandt und wenig zukunftsorientiert.“ In Wahrheit, behauptet Sevcik, sei das Ruhrgebiet als Ballungsraum nichts Besonderes, es sei einer von vielen und eben: keine Megastadt. Stadtmorphologisch – also von der äußeren Gestalt her - sei es dafür viel zu sehr zersiedelt, viel zu wenig dicht. Anders als Berlin sei es dem Revier zudem nicht vergönnt gewesen, zu einer echten Metropole zusammenzuwachsen. Sevcik: „Ich rate dringend davon ab, aus dem Ruhrgebiet eine Megastadt mit fünf Millionen Einwohnern zu machen. Das ist der falsche Weg.“
Im urbanen Wettbewerb international punkten
Aber was ist dann der richtige? Für Thomas Sevcik liegt die Lösung in den Städten selbst. Sie sollen sich von der Ruhrgebietsromantik lösen, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, ein eigenständiges Profil entwickeln und sich dafür auch auf die vorindustrielle Stadtgeschichte besinnen, die nicht so unbedeutend sei. Vor allem die vier „Großen“ an der Ruhr hätten allerbeste Voraussetzungen: Duisburg, die Hafenstadt am Rhein; Essen, das Dienstleistungs- und Verwaltungszentrum mit klerikaler Historie; Dortmund, die alte Hanse- und Handelsstadt. Auch dem etwas kleineren Bochum räumt Sevcik beträchtliche Chancen ein, im urbanen Wettbewerb international punkten zu können.
Der Schweizer rückt die vier in die Nähe so genannter „Secondary Cities“ – der großen „zweiten“ Städte, die sich als lebenswerte und vor allem bezahlbare Alternative zu den teils unbezahlbaren und überdrehten Megastandorten wie Berlin, London oder Paris anbieten und zunehmend Attraktivität besonders bei jungen Menschen gewinnen. „Coole Trendquartiere: Warum sollten die nicht auch in Essen oder Duisburg möglich sein?“, fragt Sevcik rein rhetorisch.
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Schimmert da nicht das alte Kirchturmdenken durch? Keineswegs, entgegnet Sevcik. Konkurrenz sollte man als Stärke begreifen. So wie die 16 deutschen Bundesländer um die jeweils besten Standortqualitäten wetteiferten, müsse sich auch das Ruhrgebiet „föderalisieren“. Sevcik: „Jede Stadt ein Testlabor – vielleicht macht genau das die Region am Ende stärker als alles andere.“
Ohne Kooperation kommt das Revier freilich auch in der Welt von Thomas Sevcik nicht aus. Besonders was Mobilität und Gewerbeflächenentwicklung angeht, sieht er in der Region noch viel Luft nach oben. In seinen Augen ist das die Alltagsarbeit eines Ballungsraums. Sevcik: „Den Ruhrgebietsmythos brauchen wir dafür nicht.“
Weitere Folgen von „Ruhrgebiet, wir müssen reden!“
Folge 1: Martina Merz, Thyssenkrupp-Chefin
Folge 2: Christian Stratmann, Theatergründer und -Prinzipal des „Mondpalasts“
Folge 3: Julia Gajewski, Schulleiterin in Essen-Altendorf
Folge 4: Gerald Asamoah: Warum das Ruhrgebiet sein Zuhause wurde
Folge 5: Bischof Overbeck zum Ukraine-Krieg: Das Recht muss siegen
Folge 6: Schulministerin Feller: So gehen wir den Lehrermangel an
Folge 7: Uwe Lyko gibt Herbert Knebel noch zehn Jahre Aktuelle Episode Salon FunkeAktuelle Episode Salon Funke