Düsseldorf. Die Doppelspitze der Grünen im Landtag, Verena Schäffer und Wibke Brems, über Taser, Clans, Lützerath und ein Hilfspaket des Landes.

Trotz zweiter Todesfälle innerhalb von zwei Monaten in NRW nach umstrittenem Taser-Einsatz hält die Grünen-Fraktionsspitze im Landtag an dem zwischen CDU und Grünen verabredeten Fahrplan zur Einführung und Evaluierung von Elektroschockgeräten bei der Polizei fest. „CDU und Grüne kommen hier aus unterschiedlichen Positionen, haben aber beim Taser im Koalitionsvertrag eine tragfähige Vereinbarung gefunden“, sagte Fraktionschefin Verena Schäffer dieser Redaktion im Interview. Die beiden konkreten Fälle müssen umfassend aufgeklärt werden“, so Schäffer weiter.

Im Kampf gegen die Clan-Kriminalität schlägt die Grünen-Fraktionsspitze andere Töne an als NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). Hier das Wortlaut-Interview mit der Doppelspitze der Grünen im Landtag, Verena Schäffer und Wibke Brems.

Frau Brems, Frau Schäffer, Wie ist Ihre 100-Tage-Bilanz als Regierungsfraktion?

Brems: Unsere Erfahrungen mit der CDU sind gut. Wir kommen zwar aus unterschiedlichen Richtungen, aber wir suchen auf Augenhöhe nach Lösungen. Und wir haben schon gute Ergebnisse: Die A13-Besoldung für Lehrkräfte, Geld für Hochwasser- und Klimaschutz. Ganz wichtig: der schnellere Kohleausstieg. Das ist ein Meilenstein.

Die Vereinbarung mit RWE, früher aus der Kohle auszusteigen, aber Lützerath zu opfern, bringt Ihnen gerade von Aktivistinnen und Aktivisten, die die Grünen bisher unterstützten, von jungen Menschen und Umweltverbänden viel Kritik ein. Wie gehen Sie damit um?

Brems: Wir reden intensiv mit der Grünen Jugend und mit Klimaschützern, denn wir haben gemeinsame Ziele. Natürlich wird man, wenn man regiert, besonders beobachtet, und der Kompromiss gehört zum Regieren dazu. Wir müssen uns aber nicht verstecken, denn der nun fest vereinbarte frühere Kohleausstieg ab 2030 mitten in einer Energiekrise ist ein großer Erfolg. Es ist leider nicht gelungen, Lützerath zu retten. Diese Chance wurde schon vor langer Zeit vertan, weil zu wenig auf erneuerbare Energien gesetzt und nicht früh genug mit RWE verhandelt wurde. Vergessen wir nicht, dass es uns gelungen ist, fünf weitere Dörfer zu retten.

Nun kommt es darauf an, die Energiewende umso schneller voranzubringen, zum Beispiel alte Windräder durch moderne zu ersetzen und den Mindestabstand für diese „Repowering-Anlagen“ abzuschaffen. Auf kommunale und Landes-Gebäude gehören Photovoltaikanlagen. Da werden Grüne und CDU in NRW schnell liefern.

Wie wollen Sie verhindern, dass es in Lützerath einen „heißen Herbst“ gibt?

Schäffer: Eine Räumung ist immer für alle Beteiligten schwierig. Friedliche Demonstrationen sind ein hohes Gut und völlig legitim. Ich hoffe, dass alle so besonnen sein werden, dass niemand gefährdet wird.

Was denken Sie über neue Protestformen wir das Festkleben von Demonstranten auf Straßen und Anschläge auf Kunstwerke?

Brems: Friedlicher Protest ist wichtig. Aber wenn berühmte Gemälde beschädigt werden, ist das eine Grenzüberschreitung, die nicht der Sache hilft.

NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) hat sich vom Begriff der Clan-Kriminalität distanziert und vor einer Stigmatisierung von Menschen gewarnt. Haben Sie auch Schwierigkeiten mit diesem Begriff?

Schäffer: Er hat es vor allem eingeordnet, und da bin ich ganz bei Benjamin Limbach. Im Koalitionsvertrag steht ja, dass wir eine neue Definition zu Clan-Kriminalität schaffen, ohne Personen unter Generalverdacht zu stellen. Natürlich gibt es dieses Kriminalitätsphänomen, das zur Organisierten Kriminalität gehört und gegen die gehen wir konsequent vor. Man darf aber Menschen nicht pauschal vorverurteilen.

Mir haben Jugendliche aus einer libanesisch-stämmigen Familie im Ruhrgebiet gesagt, dass sie in dritter Generation hier leben, keinen deutschen Pass haben, zwar zur Schule gehen, aber praktisch keine Chance auf einen Ausbildungsplatz haben. Wenn sie im Essener Hauptbahnhof seien, würden sie jedes Mal von der Polizei kontrolliert, ohne etwas angestellt zu haben. Insbesondere den jungen Menschen müssen wir doch eine Perspektive geben.

CDU und FDP haben sich in NRW als politisches „Traumpaar“ inszeniert. Das sind CDU und Grüne nicht, oder?

Schäffer: Man muss eine Koalition nicht überhöhen. Es geht darum, gerade in dieser Krisenzeit gemeinsam Politik zu gestalten. CDU und Grüne bringen unterschiedliche Milieus zusammen, und das ist eine Chance. Ein bisschen Reibung tut Politik immer gut.

Im Landeshaushalt sind nur 500 Millionen Euro für schwarz-grüne Zukunftsprojekte vorgesehen. Genügt das Ihrem Gestaltungsanspruch?

Schäffer: Im Haushaltsentwurf 2023 sind wichtige grüne Themen wie Klimaschutz abgebildet. Für das parlamentarische Beratungsverfahren ist es wichtig, den Haushalt nächste Woche einzubringen, auch wenn es bisher nur ein „Basishaushalt“ ist. Wir werden noch einmal nachsteuern müssen auf Grundlage der Steuerschätzung und der Ergebnisse der Bund-Länder-Verhandlungen. Ich finde, dass man nicht versuchen sollte, sich aus einer Krise heraus zu sparen. Die gesamtwirtschaftliche Situation ist aktuell sehr schwierig, und in dieser Situation können neue Schulden nicht tabu sein.

Brems: Natürlich muss auch NRW ein eigenes Entlastungspaket auf den Weg bringen, zusätzlich zu den Hilfen des Bundes. Für Unternehmen, aber auch für Menschen, die unter der Inflation besonders leiden. Dazu muss aber zunächst klar sein, was genau der Bund anbietet und worauf sich Bund und Länder einigen.

Andere Länder schnüren schon Hilfspakete, ohne auf den Bund zu warten. Warum wartet NRW?

Brems: Die meisten Länder-Hilfen sind bisher nur angekündigt. Wir werden helfen, sobald wir genau wissen, wo und für wen Landes-Hilfen nötig sind.

Warum helfen Sie den Familien jetzt nicht schnell mit einem weiteren beitragsfreien Kita-Jahr?

Schäffer: Das weitere beitragsfreie Kita-Jahr ist fest vereinbart, ganz zielgerichtet ist es allerdings auch nicht. Wir müssen die soziale Infrastruktur stützen, denn Armut ist ein großes Problem in NRW. Wir wollen noch in diesem Jahr eine Armutskonferenz durchführen.

Dürfen die Städte im Ruhrgebiet auf eine Altschuldenhilfe des Landes hoffen?

Brems: Die Städte brauchen schnell diese Hilfe, denn sie stehen in diesen Krisenzeiten vor großen Herausforderungen. Es gilt, sich mit dem Bund auf eine Altschuldenhilfe zu einigen. Wenn das nicht gelingt, wird NRW selbst bis Ende 2023 den nächsten Schritt gehen.

Wie stehen Sie zum 49-Euro-Ticket als Nachfolger des 9-Euro-Tickets?

Brems: Die Einführung steht und fällt mit der im Ampel-Koalitionsvertrag verankerten Erhöhung der Regionalisierungsmittel durch den Bund.

Es ist wichtig, dass es eine Anschlussregelung für das 9-Euro-Ticket gibt, denn dessen Nutzung war beliebt und unfassbar einfach. Das 49-Euro-Ticket entlastet Familien, Pendlerinnen und Pendler, und es hilft dem Klimaschutz.

Schäffer: Wir wissen, dass es aber auch viele Menschen gibt, die sich ein 49-Euro-Ticket nicht leisten können. Wünschenswert wären also noch günstigere Tickets für Menschen, die Sozialleistungen erhalten.

Es gab zuletzt zwei Todesfälle in NRW, in denen der Taser eine Rolle spielte. Sollte die Polizei auf Elektroschocker verzichten, bis die offenen Fragen zu dieser Waffe geklärt sind?

Schäffer: CDU und Grüne kommen hier aus unterschiedlichen Positionen, haben aber beim Taser im Koalitionsvertrag eine tragfähige Vereinbarung gefunden: Die Polizeibehörden, die den Taser schon nutzen, dürfen ihn weiterverwenden. Es werden aber keine neuen Geräte angeschafft, und wir lassen den Taser unabhängig wissenschaftlich und ergebnisoffen bis 2024 evaluieren. Dann entscheiden wir über den weiteren Fortgang. Gerade die Gesundheitsrisiken sind noch nicht ausreichend erforscht und müssen Teil der Evaluation sein. Die beiden konkreten Fälle müssen umfassend aufgeklärt werden.