Brüssel. Ein Drittel der Abgeordneten im europäischen Parlament gehören rassistischen, rechten, populistischen oder radikal EU-feindlichen Parteien an.
Wie stark ist der rechte Rand?
Das Europäische Netzwerk gegen Rassismus brachte es auf den Punkt: „60 Millionen Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten werden jetzt die Zielscheibe des Hasses von mehr als 70 Abgeordneten im neuen Europa-Parlament sein.“ Das ist das womöglich beunruhigendste Resultat der Europa-Wahlen. In der Volksvertretung tummeln sich nicht nur Europa-Muffel, sondern auch eine gestiegene Anzahl Nazis und Rassisten. Zählt man alle zusammen, die in der ein oder anderen Form gegen die etablierten Parteien stehen, kommt man auf ein knappes Drittel der 751 Abgeordneten, fast zehn Prozentpunkte mehr als 2009.
Eine Gestaltungsmehrheit hätten die Randständigen nicht einmal, wenn sie sich allesamt zusammentäten. Was unrealistisch ist: In der vergangenen Legislaturperiode haben nach Daten des Forschungsinstituts VoteWatch zum Beispiel die Abgeordneten der Freiheitspartei des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders bei rund der Hälfte der Abstimmungen im EP gegen die Kollegen des Front National gestimmt.
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In jedem Fall werden die Antis und Populisten Druck auf die „Alt-Parteien“ ausüben, von rechts in erster Linie beim Thema Einwanderung und Flüchtlinge. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik könnte sich hingegen laut VoteWatch der umgekehrte Effekt ergeben: Im Bündnis der politischen Mitte gegen den Rand würden die Sozialdemokraten an Gewicht zulegen und den konservativen und wirtschaftsliberalen Partnern Zugeständnisse abnötigen, etwa in Form eines weniger strikten Sparkurses oder beim Widerstand gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP.
Gab es eine Trendwende bei der Beteiligung?
Trotz aller Bemühungen, die Wahl durch Spitzenkandidaten spannender zu machen und zu „politisieren“ - der Nichtwähler ist die stärkste Kraft geblieben. 56,1 Prozent ließen ihr Wahlrecht (in Belgien, Luxemburg: ihre Wahlpflicht) ungenutzt Damit lag die Beteiligung bescheidene 0,9 Punkte über den 43 Prozent der Wahl von 2009. Trotzdem verkündete der Sprecher des EP ein „historisches“ Ergebnis, weil der seit 1979 (erste Direktwahl des Parlaments) andauernde Abwärtstrend gestoppt wurde.
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Für eine Belebung des Interesses sorgte wohl weniger die Konkurrenz der Spitzenkandidaten als die starke Mobilisierung der EU-Kritiker. Großbritannien, Frankreich, Griechenland und Deutschland gehörten zu den Ländern mit den stärksten Zuwächsen. Die Slowakei unterbot umgekehrt den 2004 von ihr aufgestellten Minus-Rekord. Damals waren 16,9 Prozent wählen gegangen, diesmal waren es nur noch 13 Prozent.
Wie sind die Kräfte im neuen EP verteilt?
Nach der – noch nicht abschließenden – Übersicht des EP vom Montagnachmittag käme die christdemokratische EVP als stärkste Fraktion auf 213 Sitze, vor der sozialdemokratischen S & D mit 190 Mandaten.
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Dritte Kraft blieben die Liberalen (64), gefolgt von den Grünen (53), den Konservativen und Reformern (46), der Linken (42) und der euroskeptischen „Freiheit und Demokratie“ (38). Da kann es aber noch einige Verschiebungen geben: 64 Neuzugänge gehören zu keiner der bislang im EP vertretenen rund 160 Parteien, weitere 41 sind vorderhand fraktionsunabhängig. Die genaue Stärke der Fraktionen ist mithin noch offen.
Wer wird jetzt Kommissionspräsident?
Der Luxemburger Jean-Claude Juncker hat als Spitzenkandidat der EVP die besten Aussichten. Sein Hauptrivale Martin Schulz will sich aber seinerseits um eine Mehrheit im Plenum bemühen. Die Christdemokraten brandmarken Schulz als „Häuptling gespaltene Zunge“, der nichts mehr davon wisse wolle, dass er vor der Wahl dafür gewesen sei, der Kandidat der stärksten Fraktion müsse Kommissionschef werden.
Tatsächlich ist das übliche Spiel – wer bekommt was und muss was dafür geben? – längst im Gang. Am heutigen Dienstag werden die Staats- und Regierungschefs darüber beraten. Ihnen sind weder Juncker noch Schulz sonderlich genehm. Für einen Vorschlag an das Parlament braucht es im Europäischen Rat eine Zweidrittel-Mehrheit
Wie geht es weiter?
Vor dem Sonder-Gipfel am Abend beraten morgen auch die Chefs der EP-Fraktionen unter Vorsitz des bisherigen Präsidenten Martin Schulz über die Nachfolge des Kommissionschefs Barroso. Bis Mitte Juni wollen die neuen Fraktionen zusammentreten und ihre neuen Vorsitzenden wählen. Die konstituierende Sitzung des Parlaments ist für den 1. Juli angesetzt - drei Tage nach dem regulären Frühjahrsgipfel, auf dem Merkel und ihre Kollegen einen Personalvorschlag beschließen könnten. Wenn alles glatt läuft, könnte er Mitte Juli in Straßburg gewählt werden.