Kiew. Nach Hilferufen von Russland-treuen Politikern schickt Moskau Truppen in die Ukraine. Und kopiert damit alte sowjetische Muster. Noch ist die Invasion auf der Krim-Halbinsel ein Nervenkrieg - aber es ist zu befürchten, dass der Kreml-Chef den Konflikt weiter treibt - und der Westen muss zuschauen.

Die Ukraine fürchtet angesichts der faktischen Besetzung der Halbinsel Krim durch russische Kräfte einen Krieg mit seinem übermächtigen Nachbarland und bittet die Nato um militärischen Beistand. "Wir stehen am Rande einer Katastrophe", sagte der amtierende Ministerpräsident Arseni Jazenjuk.

Der Sicherheitsrat in Kiew berief am Sonntag alle Reservisten ein und versetzte die Armee in höchste Alarmbereitschaft. Zudem sperrte die Ukraine den Luftraum für Militärmaschinen. Das Parlament in Kiew bat die Staatengemeinschaft um die Entsendung internationaler Beobachter.

In der schärfsten Konfrontation zwischen Russland und dem Westen seit dem Ende des kalten Krieges warf US-Präsident Barack Obama seinem Kollegen Wladimir Putin in einem 90-minütigen Telefonat die Verletzung der ukrainischen Souveränität und des Völkerrechts vor. Putin entgegnete, Russland werde seine Interessen im Osten der Ukraine und auf der Krim verteidigen. Auch die Nato beriet. "Was Russland jetzt in der Ukraine macht, verletzt die Grundsätze der UN", sagte Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. "Es bedroht Frieden und Sicherheit in Europa."

Radar- und Trainingsstützpunkt der Marine entwaffnet

Auf der russisch geprägten Halbinsel gab es am Sonntagmorgen keinerlei Anzeichen für eine Entspannung. Russische Kräfte entwaffneten nach Angaben der Agentur Interfax unter anderem einen Radar- und Trainingsstützpunkt der Marine und forderten die dort stationierten Soldaten dazu auf, sich auf die Seite der "rechtmäßigen" Führung der Krim zu schlagen. Putin hatte sich am Wochenende vom Parlament die Entsendung russischer Soldaten in das Nachbarland genehmigen lassen. Einheiten der russischen Schwarzmeerflotte, die auf der Krim stationiert ist, haben inzwischen gemeinsam mit Sicherheitskräften der autonomen Teilrepublik wichtige Gebäude eingenommen, wie der pro-russische Regierungschef der Krim, Sergej Axjonow, mitteilte.

Putin begründete einen möglichen Militäreinsatz mit einer lebensbedrohlichen Lage für Russen und die Angehörigen der russischen Streitkräfte in der Ukraine. Auf der Krim stellen ethnische Russen die Bevölkerungsmehrheit, im Osten der Ukraine ist Russisch die Muttersprache vieler Bürger.

MG-Schützen und Schützenpanzer bewachen Flugplätze

In Simferopol war es auch am Sonntag ruhig. Vor dem Lenin-Denkmal neben dem Gebäude des Ministerrates standen 20 Zivilisten und hielten Flaggen Russlands und der Russischen Kriegsflotte hoch.

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Die meisten Passanten beachteten sie nicht, die Busse waren voll, Geschäfte geöffnet. Bürgermeister Viktor Agejew rief die Bürger im TV-Kanal ART auf, nicht mit dem Auto ins Stadtzentrum zu fahren: "Damit angesichts der Ereignisse nicht noch zusätzliche Staus entstehen."

Russland hat die Halbinsel Krim besetzt. MG-Schützen und Schützenpanzer bewachen Flugplätze, das Parlament, andere strategische Objekte. Frauen lassen sich mit ihnen fotografieren. Russische Streitkräfte kontrollieren die russlandfreundlichste Provinz der Ukraine.

"Putin hat der Ukraine den Krieg erklärt"

Nachdem die Öffentlichkeit tagelang über die Nationalität der Soldaten ohne Kennzeichen auf ihren Tarnuniformen rätselte, hat der russische Föderationsrat die Militäraktion am Samstag offiziell gemacht. Das russische Oberhaus erteilte Präsident Putin einstimmig die "Zustimmung zum Einsatz der Streitkräfte Russlands auf dem Gebiet der Ukraine bis zur Normalisierung der gesellschaftspolitischen Situation in diesem Land".

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Kiew reagierte mit Entsetzen. "Putin hat der Ukraine den Krieg erklärt", titelte das Internetportal Ukrainskaja Prawda. Die ukrainische Armee rief die Mobilmachung aus. Auf dem Maidan in Kiew versammelten sich tausende Menschen. "Putin ist ein Dreckskerl", schimpfte der Kiewer Manager Alexander Weletnikow, "wir alle werden gegen ihn kämpfen." Doch tauge das eigene Militär wenig, "der gestürzte Präsident Janukowitsch und seine Korruptionäre" hätten alle modernen Waffen verkauft.

Schutz gegen "faschistische Banden"

Das offizielle Moskau gab sich am Wochenende arglos. Fernsehkommentatoren redeten meist nur von der Krim, wenn sie den Militäreinsatz in der Ukraine diskutierten. Noch habe Putin gar nicht beschlossen, Truppen in die Ukraine zu entsenden, versicherte sein Pressesprecher. "Hoffentlich entwickelt sich die Lage nicht weiter wie bisher, in Richtung einer weiteren Eskalierung und der Schaffung von Gefahren für die Russen auf der Krim."

Viele Beobachter in Kiew und Moskau vergleichen die Besetzung der Halbinsel mit früheren Militärinterventionen der Sowjetunion: Erst besetzte eine Infanterieeinheit ohne Abzeichen das Krimparlament, dann versammelten sich unter ihrem Schutz prorussische Abgeordnete und wählten einen neuen Regierungschef. Der rief Putin um Schutz gegen "faschistische Banden" aus der Westukraine auf. Und Putin schickte mit Freuden seine Truppen. "Finnland 1939, Tschechoslowakei 1968, Afghanistan 1979 – immer wurden wir von einer Gruppe Genossen eingeladen", erklärt der Historiker Georgi Mirski. "In diesem Sinn hat sich wenig geändert seit Stalin und Breschnew."

Putins dehnbare Einsatzbefugnis

Noch ist die russische Invasion auf der Krim Nervenkrieg. Russische Schützenpanzer und Militär-Lkw fahren vor den Garnisonen der ukrainischen Truppen auf, schwerbewaffnete Schützen klettern heraus. Offiziere beginnen Übergabeverhandlungen, fordern die Ukrainer auf, ihre Waffen abzugeben und in russische Dienste zu treten.

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Russische Nachrichtenagenturen melden, ukrainische Soldaten liefen massenhaft über, laut ukrainischen Medien halten die meisten Einheiten ihre Stellung. "Unvorstellbar", hofft der Moskauer Militärexperte Viktor Litowkin, "dass ukrainische Soldaten gegen russische, oder russische gegen ukrainische Soldaten kämpfen." Aber Putins sehr dehnbare Einsatzbefugnis für sein Militär erstreckt sich auf die gesamte Ukraine. In Kiew glauben alle, der Kreml wolle "bedrohte russische Staatsbürger" in möglichst vielen ukrainischen Regionen mit militärischer Gewalt schützen. Und dabei zumindest den Südosten der Ukraine wieder unter seine Kontrolle bringen. Auf jeden Fall mischt sich Russland heftig in die ukrainischen Angelegenheiten ein.

Am Wochenende kam es in Odessa, in Lugansk, Donezk und Charkow zu prorussischen Demonstrationen. Und zu Massenprügeleien. (mit rtr/dpa)