Berlin. Kanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Hollande wollen mit einer gemeinsamen Initiative die NSA-Affäre aufklären. Der Skandal weitet sich unterdessen aus: Dokumenten von Edward Snowden zufolge sollen neben Merkels Handy weitere 35 Telefone von internationalen Politikern abgehört worden sein.
Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident François Hollande sollen mit den USA den Skandal um Spähaktionen des Geheimdienstes NSA klären. Der deutsch-französischen Initiative könnten sich andere Mitgliedstaaten anschließen, sagte EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy nach Gipfel-Beratungen in Brüssel am Freitagmorgen.
Merkel und Hollande sollten dann beim Dezember-Gipfel der EU Bericht erstatten. Der Vorwurf, die NSA habe ein Handy von Merkel abgehört, hatte den ersten Gipfeltag beherrscht. "Misstrauen erschwert die gemeinsame Arbeit", sagte Merkel in Richtung Washington. "Es hat Erschütterungen des Vertrauens gegeben. Der Gipfel hat dies mit großer Besorgnis gesehen."
Eine Unterbrechung der Gespräche über ein Freihandelsabkommen mit den USA sei bei den Gipfel-Beratungen aber nicht gefordert worden, erklärte Merkel. Das hatte der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, vor dem Treffen ins Gespräch gebracht.
Lauschangriff auf Merkel kurzfristig Thema beim EU-Gipfel
Deutschland und Frankreich schlugen bei dem Spitzentreffen eine gemeinsame Linie für den Umgang mit der NSA-Affäre vor. "Es ist so, dass Deutschland und Frankreich die Gespräche federführend übernehmen. Wenn in regelmäßigen Abständen Verdachtsmomente auftauchen, dann muss das alles ausgeräumt werden", sagte der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann. "So etwas kann man nicht auf die lange Bank schieben."
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"Am Anfang sind Deutschland und Frankreich mit einer gemeinsamen Position gekommen. Danach hat man sich auf einen Text geeinigt", erläuterte Van Rompuy. Alle 28 EU-Staaten unterstützten diese Linie. Das Thema kam wegen Enthüllungen um den vermuteten Lauschangriff auf Merkels Mobiltelefon kurzfristig auf die Gipfelagenda. Auch in Frankreich hatten Berichte über Bespitzelung im großen Stil zu Wut und Empörung geführt.
Gemeinsame Basis für Geheimdienst-Arbeit bis Ende des Jahres
Merkel sagte auf dem EU-Gipfel: "Wir werden alles daransetzen, dass wir bis Ende des Jahres ein gemeinsames Verständnis für die Kooperation der Dienste zwischen Deutschland und Amerika und Frankreich und Amerika bekommen, also einen Kooperationsrahmen zwischen den jeweiligen Diensten (...)".
In einer Erklärung hieß es: "Sie (die Staatenlenker) unterstrichen die Bedeutung der engen Beziehung zwischen Europa und den USA und den Wert dieser Partnerschaft. Sie drückten ihre Überzeugung aus, dass die Partnerschaft auf Respekt und Vertrauen basieren muss, inbegriffen, was die Arbeit und die Zusammenarbeit von Geheimdiensten angeht."
Das Allerwichtigste sei jetzt, mit den USA eine Basis für die Zukunft zu finden, sagte Merkel. "Für die Zukunft muss etwas verändert werden und zwar gravierend." So müsse das Thema Datenschutz vorrangig behandelt werden. Allerdings wurde die Zielmarke für die EU-Datenschutzreform vom kommenden Jahr auf "Ende 2014 oder Anfang 2015" aufgeschoben. Grund seien die Europawahlen, durch die es oft Verzögerungen gebe, erläuterte Hollande.
NSA könnte weitere 35 Spitzenpolitiker abgehört haben
Die Bundeskanzlerin ist möglicherweise nicht alleine von den Spionage-Aktionen betroffen. Die NSA überwachte nach einem Zeitungsbericht die Telefon-Kommunikation von 35 internationalen Spitzenpolitikern. Die Nummern habe die NSA von einem Beamten der US-Regierung erhalten, schrieb der britische "Guardian" am Donnerstag unter Berufung auf Unterlagen aus dem Fundus des Informanten Edward Snowden.
Das NSA-Dokument stamme aus dem Jahr 2006, schrieb der "Guardian". Namen seien darin nicht genannt. Die Telefone der 35 Top-Politiker seien unter insgesamt 200 Nummern gewesen, die der Beamte dem Abhördienst übergeben habe. Diese Informationen hätten auch den Zugang zu weiteren Telefonnummern ermöglicht, hieß es. Die Überwachung habe allerdings wenig berichtenswerte Informationen gebracht.
USA warnen vor neuen Enthüllungen durch Snowden
US-Sicherheitsbehörden warnen derzeit laut einem Bericht der "Washington Post" befreundete Geheimdienste vor möglichen Enthüllungen auf Basis von Snowden-Dokumenten. Er habe Zehntausende Unterlagen mitgenommen, die Informationen über Spionage-Aktionen zum Beispiel gegen den Iran, Russland oder China mit Hilfe von Diensten anderer Länder enthielten, schrieb das Blatt in der Nacht zum Freitag. Darunter seien zum Teil auch Staaten, die nicht offiziell mit den USA verbündet seien.
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Die beteiligten ausländischen Dienste würden jetzt nacheinander vom Büro des US-Geheimdienstdirektors James Clapper informiert, hieß es. In einem der Fälle gehe es zum Beispiel um eine Spionage-Aktion gegen Russland, die von einem NATO-Land aus laufe. "Wenn die Russen davon wüssten, wäre es für sie nicht schwer, dem ein Ende zu setzen."
"Die Vereinigten Staaten nehmen die Bedenken der internationalen Gemeinschaft sehr ernst", sagte die sicherheitspolitische Sprecherin des Weißen Hauses, Caitlin Hayden, der Nachrichtenagentur dpa am Donnerstagabend (Ortszeit). Es gebe regelmäßig Gespräche mit "betroffenen Partnern". Laufende diplomatische Diskussionen wolle sie aber nicht kommentieren. Auch die NSA äußerte sich auf dpa-Nachfrage nicht zu dem Bericht der "Washington Post".
US-Botschaft in Berlin möglicherweise an Späh-Aktionen beteiligt
An der vermuteten Spionageattacke gegen Merkel war möglicherweise die US-Botschaft in Berlin beteiligt. Dieser Verdacht soll sich, wie die "Süddeutsche Zeitung" erfuhr, aus Unterlagen von Snowden ergeben. Auch die "Welt" berichtete unter Berufung auf Sicherheitskreise in Berlin von dem Verdacht.
Der amtierende Außenminister Guido Westerwelle (FDP) bestellte US-Botschafter John B. Emerson zum Rapport - ein ziemlich beispielloser Vorgang unter engen Verbündeten.
Deutsche Sicherheitsbehörden vermuten, dass Merkels Handy längere Zeit angezapft wurde. In Dokumenten, die Snowden entwendet habe, befinde sich eine alte Handy-Nummer Merkels, berichtete die "Welt" unter Berufung auf Sicherheitskreise. Merkel nutzte das betroffene Handy demnach von Oktober 2009 bis Juli 2013. Auch die Bundesanwaltschaft prüft die Hinweise. (dpa)