Washington. . Der US-Geheimdienst NSA scheint sich zunehmend verselbstständigt zu haben. Präsident Barack Obama steckt die Prügel dafür ein und muss fürchten, dass wichtige transatlantische Projekte in Gefahr sind. Weitere personelle Konsequenzen sind nicht ausgeschlossen.

Für Barack Obama war es schon der dritte Telefon-Gang nach Canossa in dieser Woche. Nach um Schadensbegrenzung bemühten Anrufen bei Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto und Frankreichs Staatschef François Hollande war Bundeskanzlerin Angela Merkel am Mittwoch der nächste hochrangige Gesprächspartner des amerikanischen Staatsoberhauptes ins Sachen NSA. Die Liste von Staats- und Regierungschefs, die sich aufdringlichster Aufmerksamkeit amerikanischer Geheimdienste sicher sein dürfen, wird immer länger. Vor Wochen hatte bereits Brasiliens Regierungschefin Dilma Roussef verärgert einen Staatsbesuch in Washington abgesagt, weil die NSA bei ihr gelauscht und E-Mails abgefangen haben soll.

Mögen die Fälle auch verschieden gelagert sein, so wird die Arbeitsauffassung der in Fort Meade vor den Toren Washington beheimateten Mega-Behörde mit über 40.000 Angestellten für das Weiße Haus doch zunehmend zur Belastung. Vier Monate nach den ersten Enthüllungen von Edward Snowden über die Schnüffellust der National Security Agency verfestigt sich in politischen Kreisen der Hauptstadt der Eindruck, dass die sicherheitspolitische Gemeinde dem Commander-in-Chief auf der Nase herumtanzt. Der unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung staatlich autorisierte Einbruch auch in die Intimsphäre politischer Entscheidungsträger anderer Länder habe sich „verselbstständigt“, sagten renommierte Enthüllungsjournalisten kürzlich auf einer Tagung des konservativen Cato-Instituts.

Im Fall Merkel wiegen die Verdachtsmomente besonders schwer. Noch im Juni während seines Besuches am Brandenburger Tor hatte Barack Obama die Frage, ob die USA womöglich auch die Kanzlerin ausspähen, noch flachshaft so abgetan: „Wenn ich von Kanzlerin Merkel etwas wissen will, dann rufe ich sie an.“ Informationen des deutschen Auslandsgeheimdienstes BND und des für die Sicherheit im Internet zuständigen Bundesamtes deuten indes klar auf eine zweite Art der Nachrichtenbeschaffung hin. In Snowdens Akten fand sich eine alte Handy-Nummer Merkels, heißt es in ersten Medienberichten.

Weißes Haus versteckt sein Geständnis hinter „cooler“ Fassade

Die erste Reaktion des Weißen Hauses auf die geharnischte Intervention aus Berlin fiel zunächst wie gewohnt aus: cool. Obama habe Merkel am Telefon versichert, dass man sie weder aktuell noch in Zukunft überwacht. Dass Obamas Sprecher später auf Nachfragen die Vergangenheitsform bewusst aussparte, kommt nach Meinung aus europäischen Diplomaten-Kreisen einem „versteckten Geständnis gleich“. Es wäre nicht das erste.

Bereits vor der erbosten Regierung in Paris machte Obama zu Wochenbeginn einen Mini-Kotau. Sein Eingeständnis, dass der älteste Partner Washingtons in Europa angesichts von 70 Millionen abgefangenen Datensätzen in 30 Tagen (Quelle: „Spiegel“ auf Basis von Snowden-Papieren) „berechtigte Fragen“ habe, gilt Kritikern der gewaltigen Maschine von 16 konkurrierenden Sicherheits- und Geheimdiensten in den USA als Warnschuss. „Obama wird es allmählich leid, international fortlaufend Prügel für die Auswüchse der NSA einstecken zu müssen“, sagt ein langjähriger Beobachter der Sicherheitsszene bei der Denkfabrik Brookings. Wenn wichtige Projekte, etwa das angestrebte Freihandelsabkommen mit der EU oder das Swift-Abkommen über die Weitergabe von Bankdaten aus Europa an die USA, durch „Kollateralschäden der Sammelwut der NSA“ in Mitleidenschaft gezogen werden, „hört der Spaß für das Weiße Haus auf“.

Weil Regierungsstellen, etwa Geheimdienstkoordinator James Clapper, laut „Washington Post“ im Zuge der NSA-Affäre „mehrfach nachweisbar gelogen oder irreführende Angaben gemacht haben“, seien umfangreiche personelle Konsequenzen nicht auszuschließen. Prominentes Beispiel: Der Architekt der NSA, General Keith Alexander und sein Vize, John Inglis, gehen nächstes Jahres in den Ruhestand.