Washington. Die Kriegstrommel der USA ist leiser geworden - ein Militärschlag gegen das Assad-Regime in Syrien wieder unwahrscheinlicher. Wie kam die neue Entwicklung zustande und wer profitiert davon? Die wichtigsten Fragen und Antworten lesen Sie hier.

Wende oder Störmanöver? Bereits wenige Stunden nach dem überraschenden Kurswechsel Russlands im Syrien-Konflikt hat sich Washington neu sortiert, zwangsläufig. In seinem Interview-Marathon im US-Fernsehen, der eigentlich Gefolgschaft für einen Militärschlag gegen den des Giftgas-Missbrauchs stark verdächtigen Präsidenten Assad erzeugen sollte, stellte Präsident Obama die Kriegstrommel radikal leise.

Deutlich optimistischer als zuvor seine Berater sprach er von einem „potenziellen Durchbruch“ und der „echten Chance auf Erfolg“. Obama betonte mehrmals, er selber habe von Beginn an eine friedliche Lösung favorisiert und sei bereit, sämtliche militärischen Pläne sofort auf Eis legen. Vorausgesetzt, die Gegenseite meint es wirklich ernst und unterstellt - wie von Moskau gefordert - sämtliche Chemiewaffen umgehend internationaler Kontrolle. Gesunde Skepsis sei darum angebracht. Dieser Tenor sollte auch am Abend Obamas „Rede an die Nation“ prägen. Hier die wichtigsten Aspekte der neuen Entwicklung:

Wie kam die neue Entwicklung zustande?

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Es halten sich zwar Gerüchte, dass die Sache bereits vor dem G 20-Gipfel in St. Petersburg eingefädelt wurde. Aber nach allem, was bisher bekannt ist, brachte eine offenbar unbeabsichtigte Äußerung von Außenminister John Kerry den Stein ins Rollen. Assad könne einem Angriff entgehen, wenn er alle Chemiewaffen innerhalb einer Woche der internationalen Gemeinschaft übergebe, hatte Kerry am Montagmorgen in London beiläufig gesagt. Nachrichten-Agenturen destillierten daraus ein „Ultimatum“ mit eingebautem Kriegsvermeidungs-Mechanismus.

Kurz danach relativierte Kerrys Sprecherin: Alles rein „rhetorisch“ gemeint gewesen. Moskaus Außenminister Lawrow nahm seinen Amtskollegen jedoch sofort beim Wort und erweiterte das Szenario. Nicht nur soll Assad die Waffen übergeben, sagte er, Syrien müsse sie danach auch vernichten. Seither rätselt man in Washington über die Ernsthaftigkeit des Vorschlags. Obama: „Wir gehen der Sache auf den Grund."

Welche Auswirkungen hat die Wende schon jetzt?

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Der Zeitdruck ist raus, der Finger vom Abzug genommen. Mit Abstimmungen in beiden Kammern des amerikanischen Parlaments, die auf Obamas Wunsch einen Angriff in Syrien absegnen sollen, ist vorläufig nicht zu rechnen. Probe-Durchläufe, die im Senat für heute (Mittwoch) angesetzt waren, sind bereits abgesagt worden. Obama hätte nach letzten Umfragen im Kongress eine herbe Niederlage erwartet. Das Gros der Abgeordneten ist gegen einen Militärschlag in Syrien. Man bezweifelt Sinn und Notwendigkeit. In Umfragen sind inzwischen fast 65 % der Amerikaner gegen eine Intervention in Syrien.

Wie waren die internationalen Reaktionen nach der russischen Volte?

Überwiegend positiv. Frankreich stellt sich hinter den Vorschlag, der britische Premier David Cameron ebenso, auch Bundeskanzlerin Merkel ist dafür. Die iranische Regierung bekundet Zustimmung. UN-Generalsekretär Ban-Ki-Moon will den Ball ebenfalls aufnehmen. Selbst einflussreiche US-Senatoren, die noch vor Tagen entschlossen einer militärischen Strafaktion das Wort redeten, sehen plötzlich eine Alternative. Überall ist ein Aufatmen zu spüren. Die Tür für eine politische Lösung steht wieder einen Spalt weit offen.

Was ist der Charme dieser Lösung? 

Sie macht einen amerikanischen Militärschlag mit ungewissen Folgen, der zuletzt international immer stärker hinterfragt wurde, verzichtbar. Die Führungsebene der US-Streitkräfte atmet auf. Dort waren die Vorbehalte inoffiziell am größten. Assad zu bestrafen, aber nicht aus dem Amt bomben zu wollen - vielen Generälen leuchtete das nicht ein. Die neue Option weist Obama zudem einen Weg aus der selbst verschuldeten Sackgasse.

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Der US-Präsident hatte sich durch sein „Rote-Linien“-Ultimatum - wenn Syrien Giftgas einsetzt, dann setzt es Konsequenzen - vor einem Jahr unter Zugzwang gesetzt. Er selbst ist eigentlich der größte Skeptiker eines militärischen Angriffs. Eine Verhandlungslösung, die Syriens Chemiewaffen-Infrastruktur unschädlich macht, ist bei weitem nachhaltiger.

Wo liegen die Risiken?

Es gibt noch keinen Anlass Assad Vertrauen zu schenken. Seit 20 Jahren weigert sich Syrien, der weltweit geltenden Konvention beizutreten, nach der Chemiewaffen geächtet sind. Assad hat mit Hilfe Irans und Russlands und der technischen Unterstützung internationaler Firmen auch aus Deutschland über Jahre eines der größten Nervengas-Arsenale weltweit angehäuft: 1500 Tonnen. Der Diktator bestreit bisher die Existenz. Auch leugnet er trotz erdrückender Indizien, die von über 20 Ländern anerkannt werden, hartnäckig, mit den Giftgas-Attacken vom 21. August in Verbindung zu stehen. Dabei starben nach US-Angaben fast 1500 Zivilisten.

Es ist nach Angaben der UN zweifelsfrei erwiesen, dass Assad in der Vergangenheit Sarin und andere Gase gegen Zivilisten eingesetzt. Wie schon zuvor sein Vater. Die Menschrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) sieht Assad auch hinter den jüngsten Anschlägen. Die syrische Opposition um General Idriss traut dem Ganzen darum nicht. Assad will sich nur Zeit kaufen, sagt er. „Das ist eine Falle.“ Das Töten im Bürgerkrieg, dem bis heute bereits über 100 000 Menschen zum Opfer gefallen sind, geht unvermindert weiter. Dann eben mit konventionellen Waffen.

Liegt er richtig?

In letztem Punkt bestimmt. Die syrische Armee hat sich zum Ziel gemacht, die zersplitterte Opposition gnadenlos zu zerschlagen. Von Friedensangeboten keine Spur. Und, ja doch: Assad kann die Verhandlungen über eine Herausschaffung aller C-Waffen aus seinem Land hintertreiben. Wie man mit Obama Katz-und-Maus spielt, zeigt seit Jahren der Iran mit seinem kontroversen Atom-Programm. Selbst wenn der syrische Präsident tatsächlich grünes Licht geben würde - die Aktion könnte nach Angaben von Waffen-Experten wegen der Gefährlichkeit der Stoffe Monate bis Jahre dauern.

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Zunächst müssten alle Waffen geortet und katalogisiert werden. Der Transport des „Teufelszeugs“ (UN-Chef-Inspektor Ake Sellstrom) ist schwierig. Im Prinzip müssten die hoch gefährlichen Arsenale vor Ort unter Aufsicht unter hohen Sicherheitsvorkehrungen verbrannt werden. Dazu wären internationale Einsatzkräfte am Boden notwendig. Obama hat „Männer am Boden“ bisher kategorisch ausgeschlossen.

Weiß man überhaupt, wo die Giftgas-Depots liegen? 

Wie aus amerikanischen Regierungskreisen zu hören ist, hat Washington bisher erst 19 von mindestens 42 vermuteten Standorten lokalisiert. Viele davon sind unterirdisch angelegt. Da Assad die Waffen zuletzt im Vorgriff eines amerikanischen Angriffs im Land mehrfach verlagert hat, sei nicht auszuschließen, dass man das Arsenal nicht restlos unter Kontrolle bekommt. „Woher wissen wir, dass Assad nicht lügt?“, fragt ein Beamter des Außenministeriums im vertraulichen Gespräch.

Wer profitiert politisch am meisten, wenn der „Deal“ klappt?

Russlands Präsident Wladimir Putin. Er wird den moralischen Sieg für Moskau reklamieren, wenn Washington seine Kriegspläne endgültig begraben sollte. Noch vor 48 Stunden war er der Schurke im Stück, der gemeinsam mit China im UN-Sicherheitsrat nur „Njet“ sagt und sich ausschließlich als zynischer Schutzpatron Assads inszenierte. Durch den radikalen Kurswechsel kehrt Putin als Aktivposten auf das diplomatische Parkett zurück.

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Er hat die Initiative ergriffen; und das zählt. Er ist es, der Obama die Stirn bietet und gleichzeitig aus der Patsche hilft. Dafür wird Putin irgendwann einen Preis verlangen. Obama hat sich in gewisser Weise politisch erpressbar gemacht. Auch wenn er für sich in Anspruch nimmt, dass es ohne seine Androhung, zu den Waffen zu greifen, nie so weit gekommen wäre. Die "Falken" in Washington werden den Präsidenten so oder so als unentschlossenes "Weichei" charakterisieren.

Wann zeigt sich, ob die Russen es tatsächlich ernst meinen?

Wenn Moskau im UN-Sicherheitsrat eine Resolution unterzeichnet, in der die Abgabe und spätere Zerstörung der syrischen Chemiewaffen festgeschrieben wird. Samt Zeitplan. Und Sanktionskatalog. Falls Assad sich widersetzt.