Istanbul. Der türkische Vize-Premier kritisierte das Münchener Oberlandesgericht scharf. Einer Nachrichtenagentur sagte der Politiker, dass er kein gerechtes Urteil im NSU-Prozess erwarte. Das Gericht sei “erledigt“. Währenddessen wurde der bekannte Pianist Fazil Say in Istanbul wegen Blasphemie verurteilt.
Der stellvertretende türkische Ministerpräsident Bekir Bozdag erwartet nach eigenen Worten vom Münchner NSU-Prozess kein gerechtes Urteil mehr. "Aus unserer Sicht ist dieses Gericht erledigt", sagte Bozdag am Donnerstag der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu. Der für die Auslandstürken zuständige Vizepremier warf dem Präsidenten des Münchner Oberlandesgandgerichts, Karl Huber, mangelnde Objektivität vor.
Richter sei "nicht unparteiisch"
Huber sei "nicht unparteiisch", sagte Bozdag mit Blick auf die wochenlange Weigerung des Gerichts, türkischen Medien den direkten Zugang zu dem Prozess zu ermöglichen. "Aus meiner Sicht hat das Urteil des Münchner Oberlandesgerichts keine Bedeutung mehr." Die türkische Regierung hatte in den vergangenen Wochen die Haltung des Münchner Gerichts in der Frage der Presseakkreditierung scharf kritisiert.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Freitag zugunsten der Beteiligung ausländischer Pressevertreter war in Ankara dagegen begrüßt worden.
Unterdessen zeigte der Präsident des Bundesgerichtshofes, Klaus Tolksdorf, bei einem Besuch in Istanbul Verständnis für die türkische Kritik an dem Münchner Verfahren. Das Bundesverfassungsgericht habe die Situation aber korrigiert, sagte Tolksdorf nach türkischen Medienberichten. Die rechtsextremen Morde an acht Türken, einem Griechen und einer Polizisten seien beschämend. Zudem habe es Fehler der Ermittlungsbehörden gegeben. Wären diese Fehler unterblieben, hätten zumindest einige der Verbrechen verhindert werden können.
Bekannter türkischer Pianist Fazil Say Say wegen Blasphemie verurteilt
Während Bozdag harsche Kritik am Münchener Gericht äußerte, fiel in der Türkei das Urteil gegen den weltweit gefeierten Pianist Fazil Say. Ein Istanbuler Gericht verurteilte den 43-jährigen Künstler am Donnerstag zu zehn Monaten Haft. Say habe mit Kurznachrichten im Internetdienst Twitter "die religiösen Werte eines Teils der Gesellschaft beleidigt?", heißt es in dem Urteil. Die Strafe wurde für fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt.
Macht sich Say in diesem Zeitraum erneut der Beleidigung des Islam schuldig, muss er ins Gefängnis. Vorsichtshalber hat Say sein Twitter-Konto inzwischen geschlossen, wohl um nicht in Versuchung zu geraten.
Vor einem Jahr hatte der bekennende Atheist über Twitter einige Zeilen aus einem Gedicht des im 12. Jahrhundert lebenden persischen Philosophen und Dichters Omar Khayyam verbreitet. In dem Gedicht spottet Khayyam über die Heuchelei frommer Muslime, auf die im Paradies angeblich "Ströme von Wein" und vollbrüstige Jungfrauen erwarten. "Ist der Himmel eine Taverne oder ein Bordell?", zitierte Say den Dichter. In einer anderen Twitter-Mitteilung berichtete Say, der Muezzin habe gerade den abendlichen Gebetsruf bereits nach 22 Sekunden beendet. "Warum diese Eile? Wartet eine Geliebte? Oder eine Flasche Raki?"
Strenggläubige Bürger hatten Say angezeigt
Drei strenggläubige Bürger zeigten Say daraufhin an. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf, schließlich wurde Anklage wegen Verstoßes gegen den Artikel 216 des türkischen Strafgesetzbuchs erhoben. Er stellt die Verunglimpfung religiöser Werte unter Strafe. Mit der zehnmonatigen Bewährungsstrafe blieb das Gericht unter dem Antrag der Ankläger, die für Say 18 Monate Haft gefordert hatten.
Das Urteil gegen den Künstler, der unter anderem am Berliner Konservatorium ausgebildet wurde und mit renommierten Symphonieorchestern auf der ganzen Welt gespielt hat, wirft ein grelles Schlaglicht auf den Zustand der Meinungsfreiheit in der Türkei. Das Verfahren weckt Erinnerungen an die Anklage gegen den Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk, der sich wegen kritischer Äußerungen zu den Armenierverfolgungen im osmanischen Reich vor Gericht verantworten musste.
AKP sei die treibende Kraft hinter dem Urteil
Say, der sich zur Zeit zu mehreren Konzerten in Deutschland aufhält, war zu der Gerichtsverhandlung nicht erschienen. Seine Verteidigerin Meltem Akyol sprach von einer "traurigen Entscheidung für unser Land". Say hatte im Vorfeld des Prozesses den Verdacht geäußert, die regierende islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) sie sei die treibende Kraft hinter seiner Strafverfolgung. Der Künstler äußerte sich bereits mehrfach in der Vergangenheit kritisch über die, wie er sagte, zunehmende Intoleranz in der Türkei unter der Regierung des gemäßigten Islamisten Tayyip Erdogan und deutete an, er erwäge auszuwandern. (afp/gh/sat)