Essen. In der Sexismus-Debatte schweigt Rainer Brüderle, und die FDP müht sich um Schadensbegrenzung. Die anzügliche Bemerkung zu einer Journalistin sei ein aufgebauschter Einzelfall. Hauptstadt-Journalistinnen sehen das anders - und berichten in einem Magazin, wie berüchtigt Brüderle seit Jahren sei.
Laura Himmelreich hat mit ihrem Bericht über eine Begegnung mit Rainer Brüderle eine bundesweite Debatte über Sexismus und sexuelle Belästigung ausgelöst: "Sie können ein Dirndl aber auch gut ausfüllen", soll der FDP-Spitzenkandidat zu der jungen Redakteurin gesagt haben. Brüderle schweigt zu dem Vorfall, die FDP nimmt ihn in Schutz: Ja, mit der Äußerung sei er vielleicht zu weit gegangen. Aber...
Die Argumentation der FDP-Parteifreunde: Ein bedauerlicher Einzelfall werde hier aufgebauscht, eine regelrechte Kampagne gegen Brüderle gefahren. "Hier soll ein Hoffnungsträger der FDP mutwillig beschädigt werden", sagte FDP-Vorstandsmitglied Wolfgang Kubicki der "Bild am Sonntag". FDP-Chef Rösler bezeichnete die Vorwürfe als "durchsichtig und haltlos".
"Popo-Grabscher" als Spitzname bei Journalistinnen
Jetzt aber melden sich weitere Hauptstadt-Journalistinnen zu Wort. Im NDR-Magazin "Panorama 3" erzählen sie, dass FDP-Mann Brüderle seit Jahren für anzügliche Bemerkungen und Annäherungsversuche bekannt und berüchtigt sei. "Popo-Grabscher" hätten einige Frauen Brüderle getauft, heißt es im Begleittext zur Sendung.
Und dann erzählen gestandene Frauen, wie sie den heute 67-Jährigen erlebten: Gesine Enwaldt war von 1998 bis 2000 als Korrespondentin im ARD-Hauptstadtstudio für die FDP zuständig. Auch sie berichtet in dem NDR-Beitrag über eine Begegnung mit Rainer Brüderle - nicht etwa abends, sondern vormittags um 11.
Brüderle wurde "schon ganz gerne mal verbal übergriffig"
Hintergrundinformationen habe sie einsammeln wollen, erinnert sich die Journalistin. Doch "dieses Gespräch driftete relativ schnell ab in eine eher schlüpfrige, unangenehme Ebene, wo es von seiner Seite aus nur noch um Anmache ging", erzählt sie. Sie habe die Situation als "extrem unangenehm empfunden" - und deshalb "einfach verdrängt".
Auch Hanni Hüsch, Berlin-Korrespondentin für die ARD von 1998 bis 2005, berichtet, dass genau so etwas "immer mal wieder Thema zwischen uns Kolleginnen in Berlin gewesen" sei. Rainer Brüderle habe "durchaus bei uns den Ruf" gehabt, dass man als Frau nicht unbedingt alleine in einem Zimmer mit ihm sein wollte. "Und dass er schon ganz gerne mal verbal übergriffig sein konnte".
Die Hand auf dem Knie - "Wir sollten einen Wein trinken gehen"
Noch eine Hauptstadt-Reporterin, noch mehr unangenehme Erfahrungen: Patricia Schlesinger, Panorama-Reporterin in der Hauptstadt von 1990 bis 1995, nennt keine Namen - erzählt aber ebenfalls von einschlägigen Erfahrungen, "auch mit einem Politiker aus der FDP, vor vielen, vielen Jahren". Das Kamerateam habe schon zusammengepackt, das Interview beendet, da spürt sie "eine Hand auf dem Knie" und hört den Satz: "Wir sollten unbedingt mal einen Wein trinken gehen - am besten noch heute."
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Die erfahrenen Journalistinnen kritisieren den mangelnden Respekt gegenüber Frauen, dass "Stern"-Redakteurin Laura Himmelreich in der aktuellen Debatte "von der Angegriffenen zur Täterin" geworden sei. Wenn jetzt gefragt werde, warum die junge Frau abends in einer Bar einen Politiker anspricht, dann sei das eine Frage, "die sich einfach nicht gehört", sagt Hanni Hüsch. "Das gehört in Berlin zum normalen Geschäft eines Journalisten dazu!"
Warum viele Frauen so lange schwiegen
Und der Vorwurf, Himmelreich habe es in ihrer Begegnung mit Brüderle "doch drauf angelegt", sei "schlichtweg eine Unverschämtheit", findet Patricia Schlesinger. "Das ist die alte Version - 'das Vergewaltigungsopfer hat das provoziert, weil der Rock zu kurz war'. Nichts dergleichen!"
Und warum kocht das Thema erst jetzt hoch, warum schwiegen die Betroffenen so lange? Auch dafür haben die Hauptstadt-Journalistinnen eine Theorie. "Wer geht gerne zu seinem Chefredakteur und sagt, du, ich bin da klein gemacht worden?", fragt Hanni Hüsch im "Panorama 3"-Beitrag. Viele hätten solche Vorfälle dann lieber weggesteckt, um sich nicht auf eine Opferrolle reduzieren zu lassen. Und auch Gesine Enwaldt glaubt: Das Eingeständnis, als Frau bei der Arbeit nicht ernst genommen zu werden, wäre "die Demütigung, Teil zwei" gewesen. Wie überfällig die Debatte ist - das sei ihr "jetzt erst klar geworden". (shu)