Essen. Im wunderbar sachlich geführten TV-Talk zum Thema Sexismus bei Anne Will schlüpfte Heiner Geißler in die Rolle der Ehren-Emanze, verteidigten eine Grüne und ein Konservativer Rainer Brüderle, trat eine Ex-Gleichstellungsbeauftragte für die Männer ein – und alle waren sich einig: die Kerle müssen sich ändern.
Seit Tagen bewegt das Thema die Republik - und am Mittwoch auch die Talkrunde von Anne Will. Die debattierte Frage: Ist der Sexismus-Aufschrei, der derzeit über den Kurznachrichtendienst Twitter läuft, hysterisch oder notwendig? Relativ schnell war sich die Runde einig, dass der eigentliche Auslöser dieser Diskussion mittlerweile nur noch als parteipolitisches Wahlkampfvehikel dient.
Warum Brüderle nicht mehr spannend ist
Weder der bekennend konservative Spiegel-Autor Jan Fleischhauer noch die Bundestagsfraktionschefin der Grünen, Renate Künast, finden es notwendig, dass sich der FDP-Politiker Rainer Brüderle für seine verbalen Entgleisungen gegenüber der Stern-Reporterin Laura Himmelreich entschuldigt. Allerdings rieten sie dem FDP-Politiker zu einem klärenden öffentlichen Wort – auch, um sich aus der medialen Schusslinie zu bringen.
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Aber letztlich – und da stimmte auch die größte Brüderle-Kritikerin der Runde, die Netz-Aktivistin und Piraten-Politikerin,Anke Domscheit-Berg, zu, geht es doch längst nicht mehr um einen einzelnen älteren Mann, der einer deutlich jüngeren Frau gegenüber eine anzügliche Bemerkung gemacht hat - so blöd und platt, dass sich der Fremdschämfaktor auf Dschungelcamp-Niveau bewegt. So what, könnte man tatsächlich sagen. Mega-peinlich, vor allem für Brüderle. Peinlich letztlich auch für den Stern, der sich mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, eine alte Episode aus eher durchsichtigen Gründen wieder aufgekocht zu haben.
Eine Frage der Langzeit-Wirkung
Die Frage ist, welche Wirkung die Affäre hat. Das zwischengeschlechtliche Miteinander ist im Alltag prall gefüllt mit verunglückten Flirtversuchen, Missverständnissen, mitunter mit Wut und Zorn, aber eben auch: Anziehung. Am Ende des Tages - und da wird's philosophisch - geht's im Leben ja ganz wesentlich genau darum: Wer kann mit wem? Das muss man täglich ausprobieren dürfen, spielerisch am Anfang, ernster, wenn's ernst wird. Allerdings müssen wir ganz offensichtlich ein paar Regeln dieses alltäglichen Spiels neu für uns definieren. Das ist das wesentliche Ergebnis der #Aufschrei-Debatte. Da war sich die Talk-Runde bei Anne Will weitgehend einig. Der CDU-Politiker, Ex-Generalsekretär, Ex-Familienminister Heiner Geißler, der an diesem Abend die Rolle der Ehren-Emanze einnahm und ein ums andere Mal heftig für die Gleichberechtigung der Frau im Alltag focht, brachte es auf die Quintessenz des Abends: „Die Männer müssen sich ändern!“
Um Gottes willen keine Gender-Platzwarte
Grundfalsch wäre es sicher, an dieser Stelle nach irgendeiner institutionalisierten Tugendpolizei zu rufen oder einen Gender-Platzwart einführen zu wollen. Das wachsende Maß an Vorschreiberitis in gewissen politischen Milieus, die das bessere Ende der Moral stets bei sich wissen und das in immer neue Reglements gießen wollen, ist bereits jetzt nervig. Und die Formel „Alle Männer sind Schweine, alle Frauen Opfer“ ist letztlich genauso platt wie Brüderles Herrenwitze. Darauf verwies (allerdings zu penetrant) die frühere Gleichstellungsbeautragte von Goslar, Monika Ebeling, die ihren Job verlor, weil sie sich allzu heftig um die Gleichstellung der Männer und zu wenig um die Frauen gekümmert haben soll.
Anmache und Schulter-Rempeln: Es geht um Macht
Wer jedoch in Twitter verfolgt, was Frauen unter #Aufschrei an Erfahrungen niedergeschrieben haben, der kann nachvollziehen, dass die aufdringliche Anmache als erste Stufe zum tätlichen Übergriff empfunden wird, der offenbar immer noch alltäglich ist, wie Domscheit-Berg unterstrich. Und diese Alltäglichkeit wiederum verweist auf die tieferliegende Problematik – und den Grund der Wut: Mit verbalen Anzüglichkeiten und sexuellen Belästigungen gegenüber Frauen verhält es sich wie mit dem Schulterrempeln und der Prügeldrohung unter Kerlen – es ist ein Machtspiel. Der Aggressivere, Stärkere macht seine Position klar und kann sich am Ende immer rausreden, das Ganze sei doch nur ein Scherz gewesen. Der Schwächere gibt entweder klein bei – oder er riskiert Prügel. In jedem Fall wurde er erst einmal erniedrigt.
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Man kann, wie Spiegel-Redakteur Fleischhauser, reklamieren, dass Frauen heute so selbstbewusst sein sollten, sich zu wehren. Aber das ist mitunter schwierig in Abhängigkeits-verhältnissen wie etwa im Berufsalltag. Hier müssen gerade Vorgesetzte für solche Belange stärker sensibilisiert (oder sanktioniert) werden als bisher. Und man kann kritisieren, dass im #Aufschrei vieles in einen Topf geworfen wird, was nicht zusammen gehört, der Ton mitunter schrill, die Diskussion wirr ist.
Weiterentwicklung oder..?
Trotzdem - das ist die Quintessenz des unaufgeregt-differenziert geführten TV-Talks bei Anne Will – sollte der #Aufschrei in jedem Fall ein Anlass für Männer sein, erneut über Geschlechterrollen und die eigene Position nachzudenken: Wie wollen wir in Zukunft das Miteinander der Geschlechter leben? Wer das Verdikt der Gleichberechtigung ernst nimmt, wer sich darüber freut, dass Frauen sich heute auf allen Ebenen und in allen Belangen auf gleicher Augenhöhe bewegen, und wer es vorzieht, genau mit solchen Frauen umzugehen, weil es spannend und anregend ist - für den verbieten sich platte Anmache, Anzüglichkeiten und sexuelle Übergriffe quasi von selbst. Er hat genügend soziale Geschlechterkompetenz entwickelt, um mit seinem Gegenüber die Leichtigkeit einer Annäherung zu genießen – oder es eben zu unterlassen, falls ein anderes Signal kommt.
Wer das Prinzip der gleichen Augenhöhe aber immer noch nicht begriffen hat – der hält auch den Herrenwitz noch für einen angemessenen Flirtversuch und wird die Ablehnung seiner Annäherung nicht registrieren (wollen). Er wird allerdings auch feststellen, dass er künftig in seiner Borniertheit sehr einsam und auch sonst eher erfolglos sein wird – weil er immer öfter Frauen an entscheidenden Stellen in seinem Leben begegnen wird.