Berlin. Kein Ende in der Sexismus-Debatte: Anne Wizorek, die bei Twitter unter dem Hashtag #Aufschrei eine deutschlandweite Debatte über Sexismus im Alltag ausgelöst hat, sagte, die Aktion habe gezeigt, dass viele Männer die Realität von Frauen gar nicht kennen.

Die angeblichen anzüglichen Äußerungen von FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle zu einer "Stern"-Mitarbeiterin waren nach Darstellung des Blattes kein Einzelfall. Die Autorin Laura Himmelreich habe den FDP-Politiker ein Jahr lang immer wieder begleitet und dabei die Erfahrung gemacht, dass Brüderle fast bei jeder Begegnung ähnliche Bemerkungen gemacht habe, sagte "Stern"-Chefredakteur Thomas Osterkorn am Sonntag in der ARD-Sendung "Günther Jauch". "Sie hat ein Bild eines Mannes gezeichnet, der ein Problem im Umgang mit Frauen hat, mindestens verbal."

Osterkorn verteidigte die Veröffentlichung des Artikels genau nach der Ernennung Brüderles zum Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl, obwohl die darin beschriebenen Vorgänge schon gut ein Jahr zurücklagen. "Das, finde ich, ist ein richtiger Anlass, so einen Artikel, das Substrat aus einer einjährigen Begleitung, dann zu veröffentlichen."

90 Prozent der Bürger halten laut Umfrage eine Entschuldigung für angemessen

Brüderle hatte am Sonntag in Düsseldorf bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe eisern geschwiegen. Nach einer repräsentativen Emnid-Umfrage für die "Bild am Sonntag" halten allerdings 90 Prozent der Bürger eine Entschuldigung für angemessen, sollten sich die Vorwürfe als wahr herausstellen.

Thomas Osterkorn, Chefredakteur der Zeitschrift
Thomas Osterkorn, Chefredakteur der Zeitschrift "Stern" in der ARD-Talkreihe "Günther Jauch". © dpa

Führende FDP-Politiker stellten sich inzwischen hinter den Fraktionsvorsitzenden. Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel kritisierte die Journalistin Himmelreich. "Ich halte es für eine ziemliche Unverschämtheit von der Dame vom "Stern", die nach einem Jahr, nachdem sie sich belästigt gefühlt hat, dann, wenn jemand eine neue politische Funktion übernimmt, dieses Ereignis verarbeitet", sagte er in der ZDF-Sendung "Berlin direkt". "Das hat nichts mit gutem Journalismus zu tun." Ein Jahr zu warten und dann zu skandalisieren, spreche für sich.

Thüringens FDP-Generalsekretär Patrick Kurth sagte der "Mitteldeutschen Zeitung", die Brüderle zugeschriebenen Zitate seien nicht sexistisch. "Deswegen wird die Schmierenkomödie nicht weiter verfangen."

Koch-Mehrin: Diskussion an sich wichtiger und größer als die FDP

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Die FDP-Europapolitikerin Silvana Koch-Mehrin sagte in der Sendung "Günther Jauch", die Diskussion sei inzwischen weit entfernt von Brüderle und der Frage, ob der Artikel korrekter Journalismus gewesen sei oder nicht. "Und ich finde es auch gut, dass sie sich weit entfernt hat, weil die Diskussion an sich wichtiger und größer ist als die FDP und der eigentliche Anlass." Es gebe möglicherweise unterschiedliche Befindlichkeiten bei Äußerungen, wie sie Brüderle zugeschrieben werden. "Wer Rainer Brüderle kennt, kennt seine saloppe Ausdrucksweise", sagte Koch-Mehrin.

Anne Wizorek, die bei Twitter unter dem Hashtag #Aufschrei eine deutschlandweite Debatte über Sexismus im Alltag ausgelöst hat, sagte, die Aktion habe gezeigt, dass viele Männer die Realität von Frauen gar nicht kennen. Viele Männer hätten schockiert festgestellt, wie viele Übergriffe auf Frauen heute noch stattfinden. "Das ist für sie eine andere Realität. Wir leben in einer männlich dominierten Gesellschaft. Und insofern ist das für Frauen der Alltag." Die bislang 60 000 Tweets zeigten, welches Redebedürfnis da sei, "und dass da wirklich ein Knoten geplatzt ist".

Der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler sagte in der "Passauer Neuen Presse", es handele sich um eine überfällige und notwendige Debatte. "Es gibt mehr Frauen als Männer auf der Welt, aber kein Teil der Weltbevölkerung wird derart entrechtet und diskriminiert wie die Frauen. Bei uns in Deutschland gibt es immer noch Rudimente dieser Diskriminierung, die jetzt endlich abgebaut werden müssen." Das bedeute, dass Frauen den selben Lohn wie Männer bei gleicher Arbeit bekommen müssten. "Wir brauchen auch die Quote." (dpa)