Essen. . Die nach links gerutschte SPD kürt ausgerechnet ihr ökonomisches Gewissen zum Kanzlerkandidaten. Doch der tickt heute anders als vor der Finanzkrise. Die SPD geht mit Steinbrück ein hohes Risiko ein, in der Hoffnung auf die maximale Rendite namens Kanzlerschaft.
Vor zwei Jahren, als SPD-Chef Sigmar Gabriel mit Schröders Agenda 2010 brach, mimte Peer Steinbrück schon mal den Helmut Schmidt. Zog sich als ökonomisches Gewissen der Partei zurück aus dem Tagesgeschäft, verteilte eine Ohrfeige nach der anderen an die linksrutschenden Genossen und kokettierte mit der Selbstanalyse, für diese SPD nicht als Kanzlerkandidat in Frage zu kommen.
Weil er wie einst Helmut Schmidt „mit dem Mainstream der eigenen Partei in Konflikt geraten“ werde. Zwei Jahre später ist er Kanzlerkandidat der SPD. Hat er sich geändert – oder die SPD? Nicht von ungefähr bittet er vorab um Beinfreiheit. Wie tickt der Volkswirt Steinbrück? Eine Analyse.
Nachgeben entspricht nicht seinem Naturell
Die SPD hadert immer noch mit Schröders Agenda, aktuell will sie die Rentenreformen am liebsten ungeschehen machen. Steinbrück nicht. „Dumm“ nannte er den Richtungswechsel vor zwei Jahren, die Abkehr von der Rentenreform breche „die Gesetze der Arithmetik“. Seine Meinung hat sich so wenig geändert wie die Arithmetik. Das neue Rentenkonzept der SPD mit seiner Person in Einklang zu bringen, wird schwierig. Steinbrück würde ein populäres Wahlkampfthema gewinnen, wenn er nachgäbe.
Auch interessant
Zu seinem Naturell passt das nicht. 2003, als Schröder seine Agenda der Partei mit einem feisten „Basta“ aufdrückte, ging Steinbrück als NRW-Ministerpräsident dahin, wo es weh tat: nach Gelsenkirchen. Draußen trugen sie den Sozialstaats-Sarg zu Grabe, drinnen kochte die Parteiseele. Doch der näselnde Nordmann zog die Basis auf seine Seite – wenn auch nur für diesen Abend.
Mit Konjunkturprogrammen aus der Krise
Seit den Agenda-Jahren ist viel passiert. Der Diplom-Volkswirt Steinbrück hat wie so viele Ökonomen in der Weltfinanzkrise alte Positionen geräumt. Gab er in seinen ersten drei Jahren als Merkels Finanzminister noch den eisernen Peer, entdeckte er 2008 den in seiner Zunft jahrzehntelang verpönten John Maynard Keynes wieder. Dessen Überzeugung, der Staat müsse die Wirtschaft ankurbeln, wenn sie es selbst nicht mehr schafft, mündete bei Steinbrück in diversen Konjunkturprogrammen.
Das machten seinerzeit alle Europa, aber keiner so konsequent. Der Staat, der von sich selbst stets sagte, er könne keine Arbeitsplätze schaffen, sorgte zudem mit großzügigen Kurzarbeits-Regeln zumindest dafür, dass es keine Massenentlassungen gab. Am Ende kam Deutschland besser aus der Krise als jedes andere Land in Europa. Mit einem Krisenmanagement, das Ökonomen ein Jahr zuvor noch linke Nachfragepolitik genannt hätten.
Selbst Eurobonds schließt Steinbrück nicht aus
Diese Linie setzt Steinbrück nun in seiner Europapolitik fort. Den Krisenländern immer neue Sparpakete aufzudrücken, hält er für falsch. Konjunkturprogramme sollen her, damit Südeuropas Wirtschaft wieder Fuß fasst, meint der SPD-Kandidat. Darin ist er sich etwa mit dem einzigen linken Wirtschaftsweisen, Peter Bofinger, einig. Selbst Eurobonds schließt Steinbrück nicht mehr aus. Die Schulden der Europäer könnten – gegen Auflagen – vergemeinschaftet werden. Wirklich marktliberale Ökonomen wie Prof. Sinn dürften wenig Freude an einem Kanzler Steinbrück haben. Der französische Sozialist Hollande dafür umso mehr.
Als Freund der freien Finanzmärkte ist Steinbrück auch nicht bekannt. Vielmehr liest er den Bankern die Leviten, seit sie sich haben retten lassen – von jenem Staat, der sie bis dahin tunlichst in Ruhe spekulieren lassen sollte. Er durfte sie als Unterwanderer der sozialen Marktwirtschaft beschimpfen, weil er in Wahrheit ihr Verbündeter war. Denn als Finanzminister rettete Steinbrück Banken wie die HRE oder die Commerzbank, was ihm als Bumerang vor die Füße fällt.
Beharren auf der Agenda-Politik
Glaubt man dem Hanseaten, hätte er nach seiner Amtszeit aber die Banken stärker an den Krisenkosten, etwa an der Rettung Griechenlands beteiligt. Heute fordert er von den Banken einen eigenen, 150 Milliarden Euro großen Rettungsschirm, damit sie nicht wieder vom Steuerzahler gerettet werden müssen. Dazu will er ihnen diverse Spekulationsgeschäfte, etwa mit Lebensmitteln, verbieten. Für diese Forderungen ist ihm der Applaus der SPD-Basis gewiss.
Demnach gibt es gar nicht so viele Themen, für die sich der Volkswirt Steinbrück von seiner sozialen Partei „Beinfreiheit“ erbitten müsste. Selbst Steuererhöhungen würde er mitmachen. Gemeint haben kann er deshalb nur sein Beharren auf der Agenda-Politik. Das tut der Basis freilich besonders weh. Andererseits hat die SPD die Grundregel des verhassten Finanzkapitalismus beherzigt, als sie ihn zum Kandidaten kürte: Sie geht mit Steinbrück ein hohes Risiko ein, in der Hoffnung auf die maximale Rendite namens Kanzlerschaft.