Berlin. Politiker aus der Großen Koalition erinnern zunehmend an Kesselflicker. Jedenfalls, wenn sie um die Atomkraft streiten. Aber eines ist sicher: Das Thema wird den Wahlkampf beherrschen. Am Samstag warf SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier der Union vor, als "Sprachrohr der Atomlobby" zu agieren.
Der Streit über den Störfall im Atomkraftwerk Krümmel strahlt immer stärker auf den Wahlkampf aus: SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier warf der Union am Samstag vor, als «Sprachrohr der Atomlobby» zu agieren. Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) bezeichnete Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) als erfolglosen Showpolitiker. Elf Wochen vor der Bundestagswahl waren sich die Politiker der Großen Koalition nur in ihrer heftigen Kritik am Krümmel-Betreiber Vattenfall einig.
Steinmeier sagte der «Welt am Sonntag», er begreife nicht, warum die CDU Kernkraft zur Öko-Energie des 21. Jahrhunderts erkläre und sich derart zum Sprachrohr der Atomlobby mache. «Ich kann die Union nur dringend davor warnen, den Atomkonsens infrage zu stellen.» Die SPD halte am Atomausstieg fest.
Müntefering greift CDU an
Ähnlich äußerte sich SPD-Chef Franz Müntefering. «Die Union verharmlost und will den Atomkonsens wieder aufkündigen», sagte er laut «Spiegel». «Wir werden aber dafür sorgen, dass der Atomkonsens umgesetzt wird, also schrittweiser Ausstieg. Die problematischen alten Meiler bis Ende der nächsten Legislatur, Krümmel sofort.»
Aber auch die Union verschärfte ihre Tonlage gegen die SPD. Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger sprach Steinmeier in der Diskussion über die Zukunft Krümmels die Kompetenz ab. Zu der Forderung des SPD-Kanzlerkandidaten nach dauerhafter Stilllegung des Pannenreaktors sagte Oettinger der «Bild am Sonntag»: «Ob und wie lange ein Kernkraftwerk betrieben werden kann, sollten Ingenieure, Techniker und die Atomaufsicht entscheiden, aber nicht Kanzlerkandidaten.»
Hessens Landeschef Koch bezeichnete Gabriel im «Hamburger Abendblatt» gar als «Showpolitiker, der in der Umweltpolitik über Jahre keinen einzigen Erfolg gelandet hat und nun drei Monate vor der Wahl versucht, sich als Anti-Kernkraft-Mann zu profilieren». Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) sagte der «Rheinpfalz am Sonntag», da er Gabriel genau kenne, «will ich ihn nicht von Wahlkampfabsichten freisprechen».
Koch wirft Vattenfall Dummheit vor
Einig waren sich Politiker von Union und SPD nur in ihrer Kritik an Vattenfall. Koch sagte: «Die Dummheit der Energiekonzerne in ihrer Kommunikation ist kaum noch beschreibbar.» Betreiber, die sich verhielten wie Vattenfall in Krümmel, würden «unfreiwillig selbst zu den größten Gegnern der Kernkraft». Müntefering schimpfte im «Spiegel»: «Was in Krümmel passiert ist, stinkt zum Himmel.» Da könne er nur sagen: «Legt das Ding endlich still.»
Der Hamburger Bürgermeister Ole von Beust (CDU) verlangte von Vattenfall in der «Süddeutschen Zeitung», die Probleme binnen kurzer Zeit zu lösen. Andernfalls solle dem Unternehmen die Betriebsgenehmigung für Krümmel generell entzogen oder ein anderer Betreiber gesucht werden.
Der Europa-Chef von Vattenfall, Tuomo Hatakka, kritisierte dagegen einen Wahlkampf mit dem Thema «Atomausstieg». «Dieses Ereignis nun zu instrumentalisieren, ist unverantwortlich», sagte Hatakka im «Focus».
Umfrage: 72 Prozent für sofortige Abschaltung
Derweil legten Nuklearexperten der Bundesregierung nahe, Atomkraftwerke älterer Bauart schneller vom Netz zu nehmen als geplant. Ältere Meiler seien technisch anfälliger und schlechter gegen Terrorangriffe geschützt als neue, sagte Michael Sailer, Mitglied der Reaktorsicherheitskommission (RSK) der Bundesregierung, der «Berliner Zeitung».
Einer Emnid-Umfrage für «Bild am Sonntag» zufolge plädieren 72 Prozent der Deutschen für eine sofortige Abschaltung älterer Atomkraftwerke. Befragt wurden am 9. Juli 501 Personen.
Der Reaktor in Schleswig-Holstein wurde nach einem Kurzschluss in einem Transformator vor einer Woche automatisch abgeschaltet. Ein ähnlicher Zwischenfall 2007 hatte einen zweijährigen Stillstand erzwungen. Der Betreiber Vattenfall hält das Kraftwerk trotzdem für sicher und will es weiter betreiben. Nach dem Atomkonsens ist noch eine Stromproduktion bis etwa 2019 möglich. (ap)