Dortmund. . Vor gut zehn Jahren musste die deutsche Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen: Das Schulsystem im Land der Dichter und Denker hat gründlich versagt, Deutschlands 15-Jährige sind im weltweiten Schülerleistungsvergleich nur unteres Mittelmaß. Seitdem hat sich einiges verbessert, sagt der Dortmunder Bildungsforscher Wilfried Bos.
Im Dezember 2001 versetzten ein paar nackte Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Bildungsrepublik in Schockstarre: Deutschlands 15-Jährige waren im weltweiten Schülerleistungstest in Mathe und Naturwissenschaften auf Platz 20 gelandet, im „Lesen und Verstehen“ gar auf Rang 21 von 31 – weit hinter Ländern wie Finnland, Kanada, Neuseeland oder Südkorea.
„Sind deutsche Schüler doof?“ titelte der „Spiegel“ damals entrüstet; Politiker und Experten, Lehrkräfte, Eltern und Schüler diskutierten heftig darüber, was die geglaubt weltbesten deutschen Schulen so ins Aus gebracht hatte.
Anfangs wurde die Debatte heftig und verbissen geführt, oft genug hatten die Diskutanten dabei ganz andere Interessen im Blick als die der Kinder. Das hat sich über zehn Jahre geändert. Heute fordert kein Bundesland mehr Deutschlands Ausstieg aus der weltweiten Pisa-Studie.
So laufen die Vorbereitungen zur Testrunde fünf (Schwerpunkt Mathematik) zurzeit geräuschlos an. 12 500 Jugendliche an 247 Schulen werden demnächst wieder über den geheimen Testblättern sitzen und tüfteln. Wird es auch diesmal wieder eine erkennbare Steigerung der Schülerleistungen geben? 2013 werden wir es erfahren.
Politische Folgen des Bildungsbebens
Mindestens so spannend wie die Lernfortschritte der 15-Jährigen in Deutschland ist aber, wie die Bildungspolitiker der 16 Bundesländer den Pisa-Schock verdaut haben. Zehn Jahre nach der großen Desillusionierung sprachen wir mit Professor Wilfried Bos, Direktor des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS), Sigrid Krause über die Folgen des Bildungs-Bebens.
Herr Professor Bos, die Pisa-Studie 2000 ergab: Deutsche Schülerinnen und Schüler sind im weltweiten Vergleich nicht einmal Mittelmaß. Diese Erkenntnis hat das Land der Dichter und Denker zutiefst erschüttert. Glaubte man hier doch fest daran, dass die deutschen Schulen zu den besten der Welt gehörten. Hat der Schock etwas bewirkt?
Bos: Offensichtlich ja. 2003, 2006 und 2009 gab es drei weitere Pisa-Studien und die Ergebnisse zeigen: Es geht kontinuierlich aufwärts, in allen drei Kompetenzfeldern. Noch deutlicher sind die Fortschritte der Grundschulen. Seit 1991 sind die Lernergebnisse in allen Messzeitpunkten signifikant besser geworden.
Das sieht die Grundschullehrerin Ursula Sarrazin anders. Sie glaubt mit 80 Prozent der Deutschen, dass die Kinder immer dümmer, die Schulen schlechter werden.
Bos: Dieser Eindruck ist falsch. In den letzten 20 Jahren hat sich in den Schulen viel bewegt. Der Unterricht ist gerade in den Grundschulen besser geworden, die Kinder lernen heute mehr und besser als damals. Und die Pisa-Tests belegen, dass die schwächsten Lerner die größten Fortschritte machen. Ihr Abstand zur Spitzengruppe hat sich verringert.
Warum brauchte man in Deutschland dafür erst den Pisa-Schock?
Bos: Seit den 70er Jahren hatte Deutschland sich fast komplett aus den internationalen Leistungstests verabschiedet. Über Jahrzehnte wurde das Bildungswesen weitgehend mit dem Bauch gesteuert – in jedem Bundesland für sich, je nach politischer Couleur mit anderen Schwerpunkten.
Hat sich das geändert?
Bos: Im Jahr 2003 ließ die Bundesregierung erstmals untersuchen: Was machen die Pisa-Sieger anders als wir? Ein Unterschied war ein regelmäßiges System-Monitoring mit der Fragestellung: Was haben Kinder in zehn Schuljahren gelernt? Daraufhin wurden auch hier Lernstandstests und das Zentral-Abitur eingeführt. Beide Neuerungen zeigen inzwischen offensichtlich Wirkung.
Was ist daran so gut?
Bos: Mit den zentralen Prüfungen in Klasse zehn (ZP 10) und im Abitur entwickelt sich eine neue Evaluationskultur. Das war der richtige Weg. Die Bildungsverantwortlichen in allen Bundesländern bewegen sich in Richtung „Daten-induzierte Politikentscheidung“. Das ist nicht mehr rückholbar.
Das klingt noch nicht nach großen Fortschritten.
Bos: Man kann darüber streiten: Haben wir genug getan? Muss jede Verbesserung so lange dauern? Bei anderen Neuerungen weiß niemand, wie sie wirken: Sind zum Beispiel die flexiblen Eingangsstufen in den Grundschulen ein gutes Instrument? Funktionieren Ganztagsschulen – mit viel Geld ausgebaut – überhaupt so gut, wie alle erwarten? Oder: Hat das Abitur nach acht Jahren (G8) etwas gebracht?
Bisher prüft kein Bundesland: Was ändert sich wodurch an der Lernleistung der Kinder? Bevor ein Pharmakonzern ein neues Medikament auf den Markt bringen darf, muss das strenge wissenschaftliche Tests durchlaufen. An Neuerungen im Bildungswesen kann jedes Land irgendwas beschließen, ohne vorab zu klären: Ist das Neue auch gut?
Warum ist das so?
Bos: Die Kultusminister wollen das offenbar nicht so genau wissen. Aktuelles Beispiel aus Hamburg: Die Abschaffung der Schreibschrift für alle 217 Grundschulen. Warum testet man nicht drei, vier Jahre an einigen Schulen, ob eine neue Schrift das Lernen erleichtert? Jetzt müssen sich 62 000 Kinder umstellen, bloß weil der Bildungssenator das so will.
Der Bildungsföderalismus hat sich seit 2001 noch verschärft, die 16 Kultusminister sind sich bis heute nicht einig über eine gemeinsame Linie. Was heißt das für die Schüler?
Bos: Eine Optimierung des föderalen Bildungssystems wäre dies: Ein Kind besucht zwölf Jahre lang ein katholisches Gymnasium in Bayern, dann wechselt es an eine Gesamtschule in Bremen – damit hätte es am meisten gelernt und das Einser-Abitur wäre damit garantiert. Vereinzelt nutzen Eltern das dramatische Bildungsgefälle zwischen den Ländern ja heute schon...
Aber im Ernst: In Umfragen sagen 61 Prozent der Eltern in Deutschland: Wir wollen, dass der Bund das Schulsystem steuert. Und der Aktionsrat Bildung schlägt ein bundesweites Zentralabitur vor. Aber in den Ländern rührt sich nichts ins diese Richtung.
Die Lehrkräfte stöhnen nicht nur hierzulande über die alljährliche „Testeritis“ in allen Klassen drei und acht. Helfen die Lernstandstests den Schulen weiter bei der Verbesserung des Lernens?
Bos: Tatsächlich muss man nicht jedes Jahr in allen drei Fächern – Deutsch, Englisch, Mathematik – testen. Ein Fach pro Jahr im Wechsel würde reichen und die Schulen deutlich entlasten. Die hätten dann jeweils drei Jahre Zeit, um die Ergebnisse im Kollegium zu diskutieren und zu überlegen, wie der Unterricht zu verbessern ist. Nach drei Jahren wäre im jeweils nächsten Test auch gut erkennbar, ob und wie anderer Unterricht im Fach x gewirkt hat.
Eine der großen Neuerungen nach Pisa war die Einführung der Schulinspektion. Wirkt die denn?
Bos: Inspektoren müsste man nur in Schulen schicken, die erkennbar Probleme haben. Und sie müssten die nach der Analyse ein Jahr lang begleiten. Die Politik wollte das nicht, also werden jetzt alle Schulen inspiziert, aber niemand sagt ihnen hinterher, was zu tun ist. Etwa: Was läuft falsch im Mathe-Unterricht? Oder: Braucht der Schulleiter eine Fortbildung in Menschenführung? Schulen, die mit Schwierigkeiten kämpfen, kommen nicht weiter ohne systematische Unterstützung. Man wirft einem Ertrinkenden doch auch nicht den Rettungsring zu und sagt ihm: An Land kommst Du ja alleine.
Nach zehn Jahren Pisa-Debatte sind viele Lehrer erschöpft von den Neuerungen, die wechselnde Regierungen ihnen bescheren. Sind sie inzwischen reformresistent?
Bos: Die meisten Lehrer arbeiten gern in ihrem Beruf. Ins Burnout führen die vielen Zusatzaufgaben, die sie erfüllen müssen. Wichtig wäre es, sie im Kerngeschäft zu unterstützen. Lehrkräfte haben großes Interesse daran, ihre Arbeit zu verbessern – das erleichtert auch ihnen den Alltag. Dafür tun sie gern mehr, als sie müssten.
Was ist positiv in Nordrhein-Westfalen?
Bos: Die Bildungsbüros in allen Kommunen sind ein richtiger Schritt. Kitas, Schulen und Weiterbildungseinrichtungen sollen darüber künftig ihre Arbeit abstimmen und die Zusammenarbeit verbessern.
Wie lautet Ihr Fazit, zehn Jahre nach dem Schock?
Bos: Die Politik bewegt sich in die richtige Richtung, nach zehn Jahren Diskussion ist ein Umdenken erkennbar – weg von der reinen Ideologie, hin zur Sachpolitik. Im Stadion würde man sagen: Es geht in Richtung erste Kurve. Bildung ist eben ein Ozeanriese – eine Kurve im rechten Winkel schafft der nicht.