Essen. Elf Jahre nach dem Pisa-Schock hat sich die deutsche Schullandschaft gewandelt. Die Schüler sollen Kompetenzen erlernen, so das etwas unscharfe Postulat der modernen Bildungspolitik. Skeptiker befürchten, dass darüber die Inhalte verloren gehen. Nach dem Abitur könnten die Schüler dann nicht viel mehr als Powerpoint-Präsentationen. Was die neuen Lehrmethoden tatsächlich bringen, wird sich erst zeigen, wenn diese neue Generation die Schulen verlässt.
Der Pisa-Test hatte es 2001 offenbart: Die deutschen Schüler können zu wenig. Sie lesen zu schlecht, sie machen zu viele Fehler beim Schreiben, rechnen holprig und wissen, nachdem sie einen Text durchgearbeitet haben, nicht mehr so genau, was eigentlich drin stand. Den Schülern fehlt es an „Kompetenzen“, könnte man auch sagen.
Kein schönes Ergebnis. Was bringt es, fragten Pädagogen im ganzen Land, wenn die Kinder und Jugendlichen zwar bei Vokabeltests oder Multiple-Choice-Klausuren Punkte holen, aber offensichtlich so wenig echte Fähigkeiten aus dem Schulunterricht mitnehmen?
Was als „klassischer Bildungskanon“ galt, wurde nach PISA hinterfragt
Der klassische Bildungskanon, der bis dahin den Unterricht dominierte, hatte von den Lehrern gefordert, ihren Schülern möglichst viel Allgemeinwissen zu vermitteln. Abgeprüft wurde, ob die Schüler den Inhalt von Goethes „Faust“ kannten, ob sie Kunst – und Geschichtsepochen mit Jahreszahl zuordnen konnten oder die Gründzüge genetischer Vererbung begriffen hatten.
Nach dem Schock des Pisa-Tests geriet dieser Kanon in die Kritik.„Bulimie-Lernen“, das In-Sich-Hineinstopfen von Lernstoff, um ihn dann nach der Prüfung möglichst schnell wieder los zu werden –das sollte es nicht mehr geben. Stattdessen sollte sich die Schule der „ganzheitlichen Kompetenzorientierung“ widmen, wie es so schön in einer Veröffentlichung des nordrhein-westfälischen Bildungsministeriums heißt.
Nun gibt es Kernlehrpläne – doch besonders konkret sind die nicht
Doch wie soll die Lehrkraft diese von Pisa und Kultusministerkonferenz geprägten Anforderungen umsetzen? Kernlehrpläne, die festlegen, was die Schüler pro Fach und Klassenstufe an Kompetenz entwickeln sollen, sind die Antwort des Landes NRW. Statt konkreten Literaturempfehlungen oder Grammatikübungen sollen die Schüler im Fach Deutsch in der sechsten Klasse zum Beispiel lernen, sich Informationen zu beschaffen und sie „adressatenbezogen weiterzugeben“ oder „zu einem begrenzten Sachthema stichwortgestützt Ergebnisse vorzutragen“ – wie der Deutsch-Unterricht dann aussehen soll, darüber herrscht vielerorts Ratlosigkeit.
Der Vorsitzende des Philologenverbandes NRW Peter Silbernagel kritisiert, dass viele Schulen mit der Umsetzung der Kompetenzvorgaben allein gelassen würden. „Die Kollegen müssen die recht unkonkreten Vorgaben auf Inhalte runterbrechen – das ist mindestens eine große Herausforderung“. Die Verantwortung der einzelnen Schulen und Lehrer wird damit größer, Dezentralisierung ist eine der wichtigsten Folgen dieses Pädagogik-Trends.
Kompetenzorientierung ist auch eine Mode
Doch Dezentralisierung kann auch zu Ungleichheit führen. Zwar sollen beispielhafte Lehrpläne den Lehrern vor Ort Hilfestellung geben – doch noch gibt es diese Lehrpläne nicht für jedes Fach. Mehr Verantwortung für die Schulen bedeutet auch, dass eine gute Schule sich noch stärker hervorheben kann, schwächere fallen dagegen umso mehr ab.
All das kritisiert Silbernagel – und geht noch weiter. Die Kompetenzorientierung der Schulen sei auch „eine Zeiterscheinung“, eine Mode also, auch wenn der Lehrerfunktionär das nicht so formulieren würde. Denn die Fokussierung auf Kompetenzen ist in der Pädagogik sehr angesagt, sie gilt als die moderne Art, Schüler auf das Berufsleben vorzubereiten. Schließlich gehe es im späteren Anwalts-, Arzt- oder Sozialarbeiterberuf nicht so sehr darum, zu wissen, wann Goethe Faust geschrieben hat oder wie der Mann heißt, auf den die Vererbungslehre zurück geht. Entscheidender sei es, kompetent mit Texten umgehen zu können.
Die Trennung von Inhaltsvermittlung und Fähigkeiten ist schwierig
Doch auch das Allgemeinwissen ist wichtig, findet Silbernagel. „Um sich im Erwachsenenleben vernünftig und zivilisiert austauschen zu können, sollte man schon wissen, in welchem geschichtlichen und literarischen Zusammenhang man sich bewegt.“ Überhaupt sei die Trennung von Inhaltsvermittlung und Fähigkeiten nicht so einfach, wie es die Kernlehrpläne suggerieren. „Man braucht immer beides – das war auch früher schon so, als es noch um mehr Inhalte ging. Auch damals wurden natürlich Fähigkeiten vermittelt“.
Heute dagegen wissen viele Lehrer nicht so genau, was sie mit ihren Schülern durchnehmen sollen, an Vorgaben mangelt es noch, die Ministerien verstecken sich, so Silbernagel, ein bisschen hinter den unverbindlichen Kompetenzbeschreibungen. Die inhaltliche Lücke wird von Verlagen gefüllt – denn ohne Vorgaben bestimmen sie, was letzten Endes in den Lehrbüchern steht.
„Es ist nicht egal, welches Gedicht man durchnimmt“
„Ich bin nicht der Meinung, dass es egal ist, welches Gedicht man durchnimmt“ bezieht Silbernagel Position. Inhalte seien, anders als es die Politik derzeit propagiere, wichtig. Man könne auch nicht „an jedem Gegenstand alles lernen“, wie es aktuell gern behauptet werde.
Stefan Behlau leitet die Gemeinschaftshauptschule in Hennef. Mit seinem Kollegium steht er im Moment vor der Herausforderung, die recht vagen Vorgaben aus Düsseldorf umzusetzen. Obgleich das manchmal bedeutet, dass ein Großteil der Lehrer in Fachkonferenzen und Schulungen gebunden ist, begrüßt Behlau die neue Freiheit. „Das Runterbrechen auf Inhalte“ gibt den Schulen viel Gestaltungsspielraum. Genau darum geht es auch Nina Heil, einer Sprecherin des Schulministeriums.
Eine Großstadtschule hätte einfach andere Schüler als eine kleine „Heile-Welt-Schule“ auf dem Land. Darauf können die Lehrer im Unterricht reagieren und Themen behandeln, die zu ihren Schülern passen. Vergleichende Prüfungen würden darüber hinaus sicherstellen, dass die Leistungen auf dem gleichen Niveau seien. Ob Kinder umziehen oder das Abitur in einem anderen Bundesland erworben haben – all das sei heutzutage kein Problem mehr, da die Anforderungen überall die gleichen seien.
Die Kernlehrpläne bringen im Klassenzimmer vor allem eines: mehr Gruppenarbeit
So die Theorie. In den Klassenzimmern hat die Kompetenzorientierung vor allem neue Unterrichtsmethoden gebracht. Die Schüler machen Gruppenarbeit, bringen sich Inhalte gegenseitig bei, bereiten Präsentationen und Referate vor. Der kompetente Umgang mit dem Stoff ersetzt den Stoff selbst? „Natürlich nicht“ heißt es aus dem Ministerium, „ein bisschen“ findet Peter Silbernagel. Wie gut die Schüler mit PowerPoint und Gruppenarbeit tatsächlich auf das Berufsleben vorbereitet werden, ob sie als Erwachsene zwar viel können, aber zu wenig wissen und ob die marktkonforme „Kompetenzvermittlung“ mehr ist als nur ein pädagogischer Trend – das vermag heute keiner zu sagen.