Berlin.

Es sind die ersten Stunden des 13. August 1961. Auch Günter Kuba im Stellwerk des S-Bahnhofs Potsdamer Platz wird angerufen. Der Dispatcher in Lichtenrade meldet sich. Ein Bauzug baue die Gleise ab, sagt der ungläubig. Kuba erfährt: S-Bahn-Züge verkehren nur noch innerhalb Ost-Berlins. Das engmaschige Verkehrsnetz wird unterbrochen. Kampfgruppen reißen Straßen auf, um Betonpflöcke einzuschlagen und daran Stacheldraht zu montieren.

Die Ulbricht-Lüge vom Mauerbau in Berlin

Operation Rose ist angelaufen. Die Grenze, die dunkel getarnte Gestalten seit 1.05 Uhr abriegeln, wird Ber­lin 28 Jahre, zwei Monate und 27 Tage teilen. Erich Honecker ist ihr Organisator. Seit dem 27. Juli hat er den Plan der Nationalen Volksarmee zur „Sicherung Groß-Berlins“ vorliegen. Ende Juli hat Moskau Ja gesagt. Die DDR steht unter enormem Druck. Jeden Tag fliehen zwischen 1500 und 2500 Bürger in den Westteil – vor kommunistischer Repression und wirtschaftlicher Not. Seit 1949 haben 2,6 Millionen die DDR verlassen. Der Auftrag an Honecker lautet: Den „harten Weg“ nehmen. Der Satz des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, „niemand“ habe die Absicht, eine Mauer zu bauen? Er war eine glatte Lüge.

Alexander Wiegand (20) aus Solingen – heute lebt er als 70-Jähriger in Mülheim/Ruhr –, ist an diesem Wochenende der weltgeschichtlichen Dramatik mit seinem 500er-Fiat nach Ost-Berlin gekommen. Er schläft bei Verwandten am Alexanderplatz. Am Vortag ist ihm Merkwürdiges aufgefallen, zum Beispiel „Leute, die mit kleinen Mess-Rädern und Maschendraht“ unterwegs waren. Die Verwandten macht das unruhig: „Sieh zu, dass du nach Hause kommst.“ Hatten West-Zeitungen nicht vom „Verzweiflungsplan Pankows“ geschrieben, der bald umgesetzt werde? Am Sonntag, dem 13. August, will Wiegand zurück ins Bergische.

Mit Bajonett und Maschinenpistole entlang der Mauer

Doch in dieser Nacht alarmiert kein Internet die User, keine „Breaking News“ die TV-Nachteulen. Die Moderne ist noch nicht so weit. Berlin verschläft seine Teilung. Als der Ost-Berliner Rundfunk um 1.11 Uhr das Programm unterbricht, hören es wenige: An der West-Berliner Grenze werde „eine Ordnung eingeführt“, die „eine verlässliche Bewachung gewährleistet“.

12 000 Volkspolizisten setzen das ungestört um. Mit Bajonett und Maschinenpistole im Anschlag lassen sie Ost-Berliner nicht mehr nach Westen. Erst am frühen Morgen wird das Ausmaß klar. „Ich arbeite dort“, drängen die Verzweifelten. 50 000 haben einen Job im Westteil der Stadt. „Suchen Sie sich eine Arbeit in der DDR“, sagen die Grenzer. Als der Tag anbricht, spielen sich dramatische Szenen ab. An einigen Stellen fehlt Stacheldraht. Es gibt zwischen Mitte (Ost) und Kreuzberg (West) offene Stellen. Hier wollen Hunderte rüber. DDR-Panzer fahren auf. Grenzer werden handgreiflich. Über­fallkommandos der West-Berliner Polizei rücken an – und wieder ab. Hilflos.

Proteste gegen den Mauerbau in Berlin sind lau

Um vier Uhr morgens hat man den „Regierenden“ Willy Brandt aus einem Zug in Norddeutschland geholt, wo er für die SPD Bundestagswahlkampf machte. Unter seiner Regie erklärt das Abgeordnetenhaus noch am Nachmittag: Stacheldraht und Todesstreifen seien „Kennzeichen eines Konzentrationslagers“. Aber die Abgeordneten stehen alleine mit ihrer Schärfe. Proteste aus Amerika und Bonn sind lau. Niemand will Atomkrieg. Nicht wegen Berlin.

Alexander Wiegand, der Solinger Junge, sitzt mittags im 500er Fiat. Am Brandenburger Tor lassen sie ihn irgendwann passieren. Die aus dem Osten bleiben Jahrzehnte eingesperrt. Wiegand wird Fluchthelfer. 124 Menschen werden ihm die Freiheit verdanken.