Gladbeck. .

Vor 50 Jahren machte die Staatsführung der DDR ernst: Sie begann mit dem Mauerbau mitten durch Berlin. Eine gebürtige Gladbeckerin erinnert sich. . .

Gudrun Nositschka, die damals noch Lichtenstein hieß, saß am 13. August 1961 als Mitglied einer evangelischen Jugendgruppe der Christuskirche im letzten Reisebus, der das Brandenburger Tor passieren durfte. Für die WAZ hat sie ihre Erinnerungen aufgeschrieben:

Während wir warteten, zum Gottesdienst unserer Patengemeinde am Prenzlauer Berg weiterfahren zu dürfen, wurden links und rechts des Busses von zahlreichen Uniformierten Löcher in die Straße gerissen und Mengen von Stacheldraht ausgerollt, um das Brandenburger Tor abzuriegeln. Verstummt und ungläubig sahen wir dem Treiben zu, und ich war sicher, dass das mehr als ein „Theaterdonner im Kalten Krieg“ war.

Unsere WAZ-Gastautorin Gudrun Nositschka, hier rechts im Bild, bei einer Visite 1962 in Leipzig. Foto: Privat
Unsere WAZ-Gastautorin Gudrun Nositschka, hier rechts im Bild, bei einer Visite 1962 in Leipzig. Foto: Privat

Unsere Eltern hatten uns, angesichts beunruhigender Meldungen nur ungern nach Berlin fahren lassen. Glücklich und voller Erwartung waren wir dennoch am 5. August losgefahren, um in einem Ferienhaus auf der Kabelwerkinsel in West-Berlin für 12 Tage mit jungen Menschen aus Leipzig, Dresden, Brandenburg und Halle zusammen zu sein, zu diskutieren, mit ihnen West-Berlin zu erleben.

Einige Betten für diese Mitglieder der Jungen Gemeinde aus der DDR (wir sagten noch SBZ, Zone oder Ost-Zone) blieben allerdings leer, warnten die Zeitungen der DDR doch beständig vor der Polio-Gefahr und dem angeblich aggressiven Abwerbungsverhalten des Westens, außerdem mit der Drohung, das Schlupfloch West-Berlin zu schließen.

Wachsendes Interesse an der deutschen Geschichte

Es dauerte zwei Tage, bis wir begannen, offen miteinander zu sprechen und unsere Lebenssituationen zu schildern. Besonderes Interesse erweckte in uns der Umgang der jungen Menschen aus der DDR mit dem Problem der Jugendweihe anstelle der Konfirmation, um keine beruflichen Nachteile erfahren zu müssen. Manche lehnten die Jugendweihe kategorisch ab, andere hatten daran teilgenommen und waren erst später zur Konfirmation gegangen. Ich fragte mich, wie ich mich entschieden hätte, wenn ich dort gelebt hätte und gern zum Gymnasium gegangen wäre, und ich war froh, nicht vor dieser Entscheidung gestanden zu haben. Mit Wohlwollen registrierten die Leiter der Freizeit, Pfarrer Wulfmeier und seine Frau sowie Diakon Hellwig, unser wachsendes Interesse für die jüngere Deutsche Geschichte und unsere Bereitschaft, keine abwertenden Urteile über die Lebenswirklichkeit der jeweils anderen zu fällen.

Unser Gemeinschaftsgefühl zeigte sich bei einem Empfang mit Diskussion bei einem Beauftragten des Senators für Jugend und Sport. Als dieser behauptete, alle guten Deutschen würden der SBZ den Rücken kehren und nur die Gleichgültigen und Nutznießer blieben dort, breitete sich Unmut aus, der in offene Empörung umschlug. Die Mitglieder der Jungen Gemeinde aus der DDR gaben eine Erklärung ab, die von uns Gladbeckern frenetisch beklatscht wurde. „Wir wissen, dass es einfacher wäre wegzugehen, doch wäre das auch verantwortlich? Was würde aus den Eltern, den Großeltern? Was würde aus beiden Teilen Deutschlands? 17 Millionen Menschen können nicht einfach alles stehen und liegen lassen, wir als Christen sowieso nicht! Christen mussten schon immer mit schwierigen Regimen auskommen.“

„Noch wirksamere und schlagkräftigere Maßnahmen. . .“

An dem Donnerstag waren wir alle in Hochstimmung, bevor wir hörten, dass der S- und U- Bahn-Verkehr von Ost nach West strenger kontrolliert wurde, und dass die Volkskammer aufgefordert worden sei, „noch wirksamere und schlagkräftigere Maßnahmen … zu beschließen“.

Und am Samstag, 12. August, lasen wir sogar von Kriegsgefahr. Was sollte das bedeuten? Immer nur noch ein Theaterdonner im Kalten Krieg? Doch am Sonntagmorgen warteten die Mitglieder der ev. Adventskirche in Ost-Berlin auf unseren Besuch, also fuhren wir los.

Immer noch stand unser Bus vor dem Brandenburger Tor, als wir plötzlich Besuch des DDR-Fernsehens erhielten. Sie verloren zwar rasch ihr Interesse an uns, als sie hörten, dass wir zu einem Gottesdienst fahren wollten, dennoch wurde unser Bus abends als ein Beleg des ungehinderten Reiseverkehrs aus dem Westen im Ostfernsehen gezeigt.

So groß die Freude bei der ev. Adventsgemeinde über unseren Besuch war – die Mitglieder hatten nicht geglaubt, dass wir noch kommen würden – so ernst waren ihre Gesichter beim Abschied. Manche weinten. Schweigend fuhren wir zur Kabelwerkinsel zurück und blickten wieder in verweinte Gesichter. Erst jetzt begriffen wir den großen Ernst der Lage, und zum ersten Mal wurde ausgesprochen, was für eine lange Zeit Realität werden sollte: Die Deutschen in Ost und West sollten endgültig durch Mauer und Stacheldraht getrennt leben müssen. Und mit uns am Tisch saßen junge Deutsche, die sich nun entscheiden mussten, ob sie im Westen bleiben oder doch zu Eltern, Großeltern und anderen geliebten Menschen zurückkehren sollten. Wir aus Gladbeck spürten ihre Traurigkeit, ihre Entscheidungsängste und fühlten uns so unendlich hilflos. Ich haderte mit dieser Ungerechtigkeit und war dennoch wiederum froh, mich nicht entscheiden zu müssen. Viele kehrten in die DDR zurück, und wir versprachen ihnen, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Ich verstieg mich sogar zu dem Versprechen, wenn möglich nach Leipzig zu kommen, was mir das erste Mal im März 1962 im Rahmen der Buchmesse und dann immer wieder gelang.

Rückreise am 16. August: Früher als geplant nach Gladbeck zurück gefahren

Am 16. August, einen Tag früher als geplant, fuhren wir nach Gladbeck zurück, aus Sorge, die Interzonenautobahn könnte gesperrt werden. Meistens schwiegen wir oder unterhielten uns nur flüsternd. Nur einmal noch kochte unser Unmut hoch, als wir viele LKW mit bestem Stacheldraht aus Duisburg beobachteten, die Richtung Osten fuhren.