Berlin. Im Wahlkampf setzen fast alle Parteien auf scharfe Asylforderungen. Doch Forscher warnen: Gut gemeinte Vorschläge haben blinde Flecken.

Dauerhafte Grenzkontrollen, Zurückweisungen an den Grenzen und unbefristete Inhaftierung von ausreisepflichtigen Straftätern und islamistischen Gefährdern – das sind die Eckpunkte der Union. Unter Kanzlerkandidat Friedrich Merz wirbt für die CDU mit einem harten Kurs in der Migrationspolitik. Aber auch die anderen Parteien – einschließlich der Grünen – setzen auf Grenzkontrollen und Sanktionen. Kanzlerkandidat Robert Habeck bekommt sogar schon Protestbriefe. Die Grüne Jugend rebelliert gegen den nach ihrer Ansicht rigiden Asylkurs ihres Kanzlerkandidaten.

Klar ist: Die aktuelle EU-Migrationspolitik ist gescheitert. Die Registrierung an der EU-Außengrenze funktioniert so wenig wie die gerechte Verteilung der Schutzsuchenden in Europa. Die Landkreise in Deutschland brauchen nach eigenen Angaben dringend eine Atempause bei der Versorgung von Geflüchteten.

Doch was im Wahlkampf nach harter Kante klingt, muss aber noch lange nicht wirksam sein. Migrationsforscher haben Bedenken, dass ein nationaler Alleingang in der Asylpolitik nicht nur europarechtlich umstritten ist – sondern Nebenwirkungen hat, die bisher kaum diskutiert werden. Und die am Ende sogar das Gegenteil von mehr Sicherheit bedeuten können.

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Risiko 1: Asylsuchende werden nicht registriert – sondern tauchen unter

Bisher muss die Bundespolizei die Menschen ins Land lassen, wenn sie Asyl suchen. Das belastet Kommunen und Städte zunächst einmal. Zugleich aber werden Syrer, Afghanen oder Somalier registriert, polizeilich erfasst, Fingerabdrücke überprüft. Die Schutzsuchende können wieder abgeschoben werden, wenn ihnen kein Asyl in Deutschland zusteht.

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Meine schwerste Entscheidung

CDU-Chef Merz will Geflüchtete an der Grenze zu Österreich oder Polen zurückweisen. AfD-Chefin Alice Weidel sagt sogar: „Die deutschen Grenzen sind dicht“. Wer trotz allem nach Deutschland will, dem bleibt nur eine Möglichkeit: illegal über die grüne Grenze. „Die Folge: Die Menschen versuchen illegal über Grenzen zu kommen, werden untertauchen“, sagt Gerald Knaus, Sozialwissenschaftler und Migrationsforscher im Gespräch mit unserer Redaktion.

Friedrich Merz (r), Unions-Kanzlerkandidat und CDU-Bundesvorsitzender, geht mit harten Migrationsforderungen in den Wahlkampf. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zieht nicht bei allem mit.
Friedrich Merz (r), Unions-Kanzlerkandidat und CDU-Bundesvorsitzender, geht mit harten Migrationsforderungen in den Wahlkampf. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zieht nicht bei allem mit. © dpa | Kay Nietfeld

Wer abtaucht, wird nicht polizeilich registriert. Menschen laufen erst viel später bei Behörden auf, wenn überhaupt. Die Behörden wissen dann nicht, wer im Land ist – ein Sicherheitsrisiko. „Registriert Deutschland Asylsuchende an der eigenen Grenze nicht mehr, werden auch andere Staaten das nicht mehr tun“, sagt Knaus. Wer profitieren könnte: die Schleuserkriminalität. Hannes Schlammann, Professor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim, schreibt: „Damit wird Irregularität zum Dauerzustand, Schattenwirtschaft floriert, Staatsversagen droht in zahlreichen Bereichen – vom Arbeitsmarkt über das Bildungs- bis zum Sozialsystem.“

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Risiko 2: Finanzielle Sanktionen treiben Flüchtlinge in die Kriminalität

Vor allem AfD und Unionsfraktion, aber auch die SPD, setzen darauf, Geflüchtete mit Sachleistungen statt Bargeld auszustatten. Die CDU will Leistungen für Ausreisepflichtige auf ein Minimum reduzieren. Das Chancenaufenthaltsgesetz, mit dem eigentlich ausreisepflichtige, aber geduldete Ausländer unter bestimmten Bedingungen arbeiten und hier leben können, kritisierte die Union immer wieder.

Kein Bargeld, so argumentiert mancher in der CDU, könne dafür sorgen, dass in Flüchtlingsunterkünften weniger Gewaltdelikte wie etwa Raub oder Diebstahl passieren. Möglich ist das, doch wissenschaftliche Belege dafür gibt es bisher nicht. Sachleistungen sollen dazu führen, dass Menschen weniger Anreize haben, nach Deutschland mit hohen Sozialstandards zu fliehen. Ob die hohe Sozialhilfe für Syrer und Afghanen tatsächlich ein Anreiz ist, ist in der Forschung umstritten. Was Studien dagegen belegen: Wer in finanziellen Notlagen steckt, kann einen Ausweg in Kriminalität suchen – dabei ist Sicherheit eigentlich das, was die Politik verbessern will.

Zugleich gilt: Von dem wenigen Bargeld, das Geflüchtete derzeit noch in Deutschland bekommen, schicken manche einen kleinen Teil in die Heimatländer, etwa wenn dort Geld für lebenswichtige Medikamente fehlt. Oder Menschen hungern. Fällt dieses Geld weg, wächst vor Ort die Not – und mehr Menschen könnten Richtung Europa fliehen.

„Die Maßnahmen können möglicherweise wirksam sein gegenüber Personen, die ausreisen müssen“, sagt Forscher Knaus. „Das Kürzen von Geld verhindert aber keine Einreisen. Wer Sachleistungen vergibt, doktert an Symptomen der Asyl- und Migrationspolitik herum.“

Risiko 3: Wer Familien zerreißt, verschärft psychische Ausnahmesituationen

Ein Ziel der CDU ist: Der Familiennachzug von subsidiär geschützten Menschen in Deutschland wird eingestellt. Schon jetzt dürfen ohnehin nur 1000 engste Familienmitglieder von anerkannten Flüchtlingen ins Land kommen, meist sind das Syrerinnen und Syrer. Die Familie ist vom Grundgesetz geschützt – nicht ohne Grund, denn sie stärkt Stabilität und Heimatgefühl, ist Anker in der Not und soziales Netzwerk. All das sind wichtige Faktoren für die psychische Gesundheit von Menschen.

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    Nach der Gewalttat eines Geflüchteten in Aschaffenburg diskutierte das Land über die mögliche Gefahr von psychisch erkrankten Asylsuchenden. Was bei der Diskussion fehlt, ist die Stimme von Therapeuten, die mit Menschen auf der Flucht arbeiten. Sie warnen: Fehlt die Familie, verschärft das die psychische Ausnahmesituation von Asylsuchenden. Viele Schutzsuchende erlebten in ihren Heimatländern oder auf der Flucht Gewalt. Das kann Traumata auslösen. Die Familie ist Polster für geschundene Seelen. Ist sie weit weg – und auch noch in einem Krieg oder einem Flüchtlingscamp in einer Notlage –, verschärft das die Stressbelastung.

    Eine Reaktion auf Trauma, Stress und Depression kann die Selbstverletzung sein. In wenigen Fällen aber kann es auch Gewalt gegen andere sein, so wie in Aschaffenburg durch einen Afghanen. Die Hintergründe der Tat werden derzeit ermittelt. Was Fachleute, die mit psychisch erkrankten Flüchtlingen arbeiten, schon vorher hervorgehoben hatten: Familienpolitik kann Teil einer Sicherheitspolitik sein.

    Risiko 4: Abschiebehaft-Offensiven treffen nicht nur Kriminelle, sondern auch Kinder

    Im Migrationsplan der Unionsfraktionen heißt es: „Personen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, dürfen nicht mehr auf freiem Fuß sein. Sie müssen unmittelbar in Haft genommen werden.“ Deutschland hat ein Problem: Immer wieder scheitern Abschiebungen – in Einzelfällen mit fatalen Folgen, wie der Terroranschlag von Solingen zeigte. Die Forderung nach Inhaftierung aller Ausreisepflichtigen erscheint als Lösung. Nur: Wo sollen die Menschen inhaftiert werden? Manche Bundesländer haben derzeit ein paar Hundert Haftplätze für ausreisepflichtige Ausländer, manche nur ein paar Dutzend.

    Dort sitzen vor allem Straftäter und islamistische Gefährder ein. Ausreisepflichtig sind allerdings mehr als 40.000 Menschen. Darunter auch Kinder und Jugendliche. Wird Syrien nach Ende des Bürgerkriegs tatsächlich von der Politik als „sicheres Herkunftsland“ eingestuft, könnten noch einmal Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder ausreisepflichtig werden – und sicher nicht alle sofort das Land verlassen. In der Logik der CDU müssten sie in Haft.

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    Im Krisenmodus

    Was mutmaßlich mit Kindern in Haft passiert, erklären die CDU-Fraktion und das Büro Merz nicht. Eine Anfrage unserer Redaktion bleibt unbeantwortet. Im Migrationsplan der Union heißt es nur, man wolle den Ländern helfen, und leerstehende Kasernen und Container-Bauten errichten.

    Oftmals scheitern Abschiebungen, weil die Ausländer abgetaucht sind. Sie scheitern aber auch, weil den Behörden Passdokumente fehlen. In vielen Fällen dauert es Wochen oder Monate, bis Abschiebungen gelingen. Was passiert mit den Familien in dieser Zeit? Es besteht unter den Parteien überwiegend Konsens darüber, vor allem schwerkriminelle Ausländer und islamistische Gefährder schneller in Haft nehmen und abschieben zu können. Doch das Risiko, dass diese Politik Kinder und Familien unverhältnismäßig hart trifft, ist hoch.

    Risiko 5: Der Bund schreitet voran – doch die Länder kommen nicht hinterher

    Abschiebehaft, mehr Rückführungen, weniger Bargeld: All das sind Forderungen, die nun aus der Bundespolitik kommen. Für die Maßnahmen sind allerdings die Länder und Kommunen zuständig. Die Ämter vor Ort versorgen die Geflüchteten und bringen sie unter. Die Ausländerbehörden sind für Abschiebungen verantwortlich, die Schulen und Kitas bezahlen Kommunen.

    Immer neue Forderungen bringen Behörden in Städten und Gemeinden ans Limit. Schon jetzt sind Mitarbeitende überbelastet, wie eine Recherche unserer Redaktion gezeigt hat. Und den ehrenamtlichen Helfern geht allmählich die Kraft verloren. Zwar zahlt der Bund den Ländern Hilfe in Milliardenhöhe. Doch das schafft keine neuen Wohnungen und Lehrerstellen. Und der Platz für Unterkünfte bleibt begrenzt. Dennoch erhöht der Bund den Druck in der Asylpolitik, verspricht im Wahlkampf eine neue Härte. Umsetzen müssen dies aber die Behörden vor Ort – mit dem Risiko des Scheiterns. Der Berliner Soziologe Ruud Koopmans hebt hervor: „Was der AfD am meisten in die Hände spielt, ist eine scharfe Rhetorik, die Abschiebungen in großem Stil verspricht, der dann aber keine Taten folgen.“

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