Berlin. Der Innenausschuss traf sich zu einer Sondersitzung nach dem Anschlag von Magdeburg. Es ist eine Suche nach Fehlern und nach Konsequenzen.
Der erste Schock nach dem tödlichen Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt ist gut eineinhalb Wochen später überwunden. Was bleibt, sind Schmerz und Trauer, und viele drängende Fragen. Wie konnte das passieren? Wer trägt die Verantwortung dafür, dass es passieren konnte? Und wie kann Ähnliches beim nächsten Mal verhindert werden?
Es sind Fragen, die sich an Politik und Behörden richten. Am Montag traf sich der Innenausschuss des Bundestags zu einer Sondersitzung zwischen den Jahren, um erste Antworten zu suchen. Vorgeladen waren neben Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) auch Holger Münch, Chef des Bundeskriminalamts, Sinan Selen, Vizepräsident des Verfassungsschutzes, und Simone Borris, Oberbürgermeisterin von Magdeburg.
Auch das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr), das für die Geheimdienste zuständig ist, tagte am Montag wegen des Anschlags.
Anschlag von Magdeburg: Vieles bleibt unklar
Der Ablauf der Ereignisse an jenem Abend ist klar: Am 20. Dezember, dem letzten Freitag vor Weihnachten, setzte sich Taleb A. in einen Mietwagen, steuerte das Auto durch eine Lücke in der Absperrung auf den Magdeburg Weihnachtsmarkt und gab Gas. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, doch sie zerstörte zahlreiche Leben. Fünf Menschen starben, rund 230 wurden verletzt.
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Doch um die klaren Umrisse der Tat herum ist auch eineinhalb Wochen danach noch vieles schemenhaft. Vor allem zum Schutz vor Ort, zur Umsetzung des Sicherheitskonzepts und zum Handeln der Behörden vor dem Anschlag ist vieles noch immer unklar – auch nach der Sitzung des Innenausschusses am Montag.
Anschlag von Magdeburg: Warum wurden Taleb A.‘s Vorgesetzte nicht über Gefährderansprache informiert?
Parlamentarier mehrerer Fraktionen berichteten, dass trotz anderslautender Ankündigungen noch keine Chronologie vorliegt, welche Behörden wann mit dem Mann Kontakt hatten. Es seien auch neue Fragen entstanden, sagte Sebastian Hartmann, innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion – etwa die, warum Vorgesetzte des Mannes nicht über die Gefährderansprachen der Polizei an den Taleb A. informiert worden seien, warum man nicht in seinem nahen Umfeld mehr nach Informationen gesucht habe.
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Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic sagte, man werde sich auch mit der Frage beschäftigen müssen, ob solche Anschläge prognostizierbar seien – und ob man auch diesen hätte prognostizieren können.
Taleb A. wurde mehrfach auffällig
Hinweise auf das Gefahrenpotenzial des Täters gab es. Der Mann aus Saudi-Arabien ist seit 2006 in Deutschland, wurde als politisch Verfolgter anerkannt, lebte zuletzt in Bernburg in Sachsen-Anhalt und arbeitete als Facharzt für Psychiatrie im Maßregelvollzug für suchtkranke Menschen.
Doch es war kein unauffälliges Leben, das Taleb A. führte. Schon während seiner Facharztausbildung in Mecklenburg-Vorpommern soll er aufgefallen sein, in einem Streit um die Anerkennung von Prüfungsleistungen mit einer Tat gedroht haben, die internationale Beachtung bekommen werde. 2013 wurde er wegen Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten zu 90 Tagessätzen verurteilt.
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Es gab Hinweise – doch Taleb A. konnte ungehindert zur Tat schreiten
Auch später gab es immer wieder Hinweise auf das mögliche Gefahrenpotenzial des Mannes – eine Warnung an die deutschen Behörden aus Saudi-Arabien etwa. Seine öffentlichen Äußerungen wurden radikaler, Taleb A. antwortete auf X (ehemals Twitter) sogar direkt auf einen Post von Innenministerin Nancy Faeser: Es sei „sehr wahrscheinlich“, dass er in diesem Jahr sterben werde, um Gerechtigkeit zu bringen.
An vielen Stellen hätten die Alarmglocken angehen können, angehen müssen. Und trotzdem konnte Taleb A. seine Pläne ungehindert in die Tat umsetzen.
Faeser: Hinweise auf eine psychische Erkrankung bei Taleb A.
Dass das nicht geschehen ist, liegt nach Einschätzung der Innenexperten mancher Bundestagsfraktionen auch daran, dass A. in keines der gängigen Raster passe, nach denen die Sicherheitsbehörden potenzielle Attentäter sortieren. Er war nicht jung, wie es vor allem islamistische Attentäter immer häufiger sind. Er gehörte, nach allem, was man weiß, keiner extremistischen Struktur an. Auch das dürfte dazu beigetragen haben, dass nicht genauer hingeschaut wurde.
„Wenn der Täter ein klassischer Islamist gewesen wäre, wäre ein solcher Anschlag deutlich weniger wahrscheinlich gewesen“, sagte Konstantin Kuhle, stellvertretender Fraktionschef der FDP, nach der Befragung im Ausschuss. Auch Innenministerin Faeser unterstrich, dass A. ein ungewöhnliches Täterprofil hat, und hob hervor, dass Hinweise auf eine psychische Erkrankung des Mannes gäbe. Für solche Fälle brauche es neue Instrumente, sagte sie, etwa Fallkonferenzen mehrerer Behörden.
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Parteien streiten um Lehren aus Magdeburg
Das Versuch, aufzuklären, wie es zu dem Anschlag kommen konnte, fällt die beginnende heiße Phase des Bundestagswahlkampfs, der Wahltag ist weniger als acht Wochen entfernt.
Auch das klingt an in einigen der Wortmeldungen an diesem Tag. Die Union hatte am Montag schon vor Beginn der Sitzung erneut die Einführung weiterer Befugnisse für die Sicherheitsbehörden gefordert, etwa in Form einer Speicherung von IP-Adressen. Grüne und FDP verwiesen darauf, dass im konkreten Fall nichts geändert hätte, weil der Täter den Behörden ja bekannt war. Die SPD warf der Union vor, ebensolche erweiterten Befugnisse für die Behörden verhindert zu haben durch die Ablehnung von Teilen des Ampel-Sicherheitspaket im Bundesrat.
„Ich finde, dass am Ende eines solchen Geschehens politische Verantwortung übernommen werden muss“, sagte Grünen-Innenexperten Konstantin von Notz – anders als nach der Katastrophe bei der Duisburger Love Parade oder dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, wie er betonte. Wer diese tragen wird, ist eine der vielen noch unbeantworteten Fragen in diesem Fall.
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