Buenos Aires/Berlin. Das Kind in Russland bekommen? Das kommt für viele Russen nicht in Frage. Sie reisen lieber nach Buenos Aries – und umgehen Sanktionen.
- Immer mehr russische Frauen reisen hochschwanger nach Argentinien
- Spezielle Agenturen helfen Russinnen, ihre Kinder in Argentinien zur Welt zu bringen
- Durch die Geburt ihres Kindes in Südamerika versprechen sich die Eltern viele Vorteile
Hochschwanger stieg Olga Akramova in ein Flugzeug. Die 28-Jährige hatte nur noch sechs Wochen bis zur Geburt ihrer Tochter, da verließ sie im vergangenen März ihre Heimatstadt Moskau und flog allein in Richtung Argentinien. Mehr als 20 Stunden hat sie dafür gebraucht, um - mit Umsteigen in Äthiopien - endlich in Buenos Aires anzukommen. „Ein bisschen traurig war ich schon, als ich mein Zuhause verließ, aber ich wusste, dass es die beste Entscheidung für mein Kind war“, sagt Akramova im Gespräch mit unserer Zeitung.
Für die werdende Mutter stand nämlich lange fest, dass sie ihr Baby nicht in Russland gebären möchte, um das Kind „nicht in seinen Möglichkeiten zu limitieren“, wie es die 28-Jährige ausdrückt. Akramova, die in Moskau als Prozessoptimiererin arbeitet, wollte für ihre Tochter eine andere Staatsbürgerschaft als die russische – oder zumindest eine weitere, die eine unkomplizierte Einreise in andere Länder ermöglicht. „Mir russischem Pass kommt man derzeit nicht weit und wer weiß, was die Zukunft bringt und wie schwierig es für uns Russen noch wird“, erläutert die junge Frau vorsichtig.
- Streit um Finanzen der Nato: „Trump geht es auch um historische Schuld Deutschlands“
- Ukraine-Offensive: „Russen machen sich große Sorgen“: Schwere Kämpfe in Kursk
- Szenario: Selenskyj spricht von Gebietsabtretung – unter einer Bedingung
- Transgas: Putins letzte Pipeline in die Mitte Europas
- 25 Jahre Putin: Vom Hoffnungsträger zum erbitterten Gegner
- Neuer Kommandeur: Militär-Legende soll ukrainische Truppen fit machen
Argentinischer Pass ist bei Russen heiß begehrt
Zusammen mit ihrem Ehemann fasste Akramova daher den Plan, das Kind in Argentinien auf die Welt zu bringen. Denn das südamerikanische Land hat eines der liberalsten Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsrechte weltweit. Das Land folgt dem Prinzip „ius soli“, dem „Recht des Bodens“. Das heißt, wer in Argentinien geboren wird, ist automatisch Staatsbürger. Und nicht nur das: Auch die Eltern, als direkte Verwandte, können dadurch den argentinischen Pass beantragen - und er gilt als einer der stärksten weltweit, ermöglicht eine visumfreie Einreise in mehr als 170 Länder, darunter auch den Schengenraum.
Dazu kommt noch, dass Russen problemlos und ohne ein Visum nach Argentinien einreisen dürfen. Für eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung muss man nur nachweisen, dass man im Ausland über genügend Einkünfte verfügt, um in Argentinien davon leben zu können.
Argentinien war also schon länger ein Ziel für sogenannten Geburtstourismus, doch seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine steigen die Zahlen enorm. Laut Angaben der argentinischen Einwanderungsbehörde haben allein im Jahr 2022 mehr als 10.500 Russinnen im südamerikanischen Land entbunden. Für die Jahre 2023 und 2024 wird die doppelte Zahl prognostiziert.
Russische Agentur bietet ein „Rundum-Paket“ für die Geburt in Argentinien
„In Buenos Aires trifft man überall Russen, es gibt eine große Community. Manche fliegen nach der Geburt ihres Kindes zurück nach Russland, andere dagegen bleiben in Argentinien“, berichtet Olga Akramova. Fast ein halbes Jahr verbrachte sie in der argentinischen Hauptstadt, brachte dort ihre Tochter zur Welt – und das ohne ihren Mann oder ihre Familie an der Seite. „Er konnte beruflich Russland nicht verlassen, also musste ich allein reisen und auch ohne seine Unterstützung entbinden“, sagt die 28-Jährige.
Um sich nicht um alles allein kümmern zu müssen, beauftrage Olga Akramova eine russische Agentur, die sich auf das Kinderkriegen in Argentinien und das Beantragen der argentinischen Staatsbürgerschaft spezialisiert hat. Das Unternehmen „Blacksmith Family“ wird von einem russischen Ehepaar geführt, das selbst mit zwei Kindern seit 2022 in Buenos Aires lebt. Oleg und Anna Kovalenko kommen ursprünglich aus Moskau und haben sich in Argentinien selbstständig gemacht. Sie bieten, wie sie es beschreiben, „einen reibungslosen Ablauf, von der Geburt des Kindes bis zum Beantragen der Staatsbürgerschaft für die Eltern.“
Auch interessant
Nach eigenen Angaben betreuen sie etwa 100 russische Paare im Jahr, die in Argentinien ihr Kind bekommen – Tendenz steigend. Die Preisliste dafür fällt individuell aus, „abhängig davon, welche Dienstleistungen unsere Klienten bevorzugen, erklärt Oleg Kovalenko. Auf seiner Homepage bietet das Ehepaar verschiedene Pakete an. Die teuerste Variante erfasst ein Rundum-Paket, bei dem die Agentur auch alle Behördengänge organisiert und betreut. „Unser Team kümmert sich um alles Notwendige. Wir helfen bei der Arzt- und Kliniksuche, organisieren Wohnungsbesichtigungen, vermitteln Dolmetscher und Anwälte und bieten sogar Stadtführungen und Fotoshootings an“, fasst es Oleg Kovalenko zusammen.
„Ein russischer Pass bringt heutzutage viele Hürden mit sich. Manche können damit keine Konten mehr eröffnen oder eigenes Unternehmen gründen. Ein argentinischer Pass kann dagegen viele Türen öffnen“, erläutert Anna Kowalenko. Viele Paare, die das Ehepaar betreut, würden sich zudem wieder wünschen, mehr reisen zu dürfen. „Es ist sehr schwer derzeit, mit russischem Pass ein Visum zu bekommen. Entweder bekommt man gar keins oder es dauert sehr, sehr lange“, fügt Anna Kowalenko hinzu.
Ein weiterer Grund, warum immer mehr Russen nach Argentinien kommen, sei zweifellos der Krieg in der Ukraine. „Manche wollen natürlich einer möglichen Mobilmachung entkommen, weil sie Angst haben, eingezogen zu werden“, sagt Oleg Kovalenko. Auch LGBTQ-Paare, die in Russland ihre Liebe nicht offen zeigen dürfen, entscheiden sich für den Umzug nach Argentinien. „Die Rechtslage ist hier sehr liberal und dazu noch sind die meisten Menschen hier freundlich zu Russen“, sagt der Agentur-Betreiber.
- Tod: Hospiz-Krankenschwester – „Ab diesem Punkt sterben Menschen innerhalb von 72 Stunden“
- Tier-Angriff: Surfer überlebt Hai-Attacke – „Um mich herum war eine Blutlache“
- Familie: Kinderprostitution – „Ich spüre noch seine Hände auf mir“
- Trauma: Mit 18 vom Arzt missbraucht – „Ich habe ihm vertraut“
- Kindesentführung: Von der eigenen Mutter gekidnappt – Ich habe es selbst erlebt
Dass sich nicht alle Russen den Umzug nach Argentinien leisten können, sei selbstverständlich, so das Ehepaar Kovalenko: „Man muss schon gute Ersparnisse haben, um sich hier das Leben leisten zu können.“
Russischer Baby-Boom in Argentinien: Kostspieliger Aufenthalt in Buenos Aires
Für ihren dreieinhalb monatigen Aufenthalt in Argentinien hat Olga Akramova umgerechnet etwa 20.000 US-Dollar benötigt, davon hat sie auch die Eheleute Kovalenko bezahlt sowie ihre Unterkunft und die Geburt in einem privaten Krankenhaus. „Natürlich ist es teuer, aber dafür hat meine Tochter jetzt die argentinische Staatsbürgerschaft“, sagt die 28-Jährige. Auch sie hat bereits einen Antrag für argentinischen Pass gestellt. Ihr Mann, der selbst keinen einzigen Tag vor Ort war, darf die Staatsbürgerschaft als direkter Verwandter ebenfalls beantragen, muss dafür jedoch persönlich vor Ort erscheinen. Ob die beiden wirklich argentinische Staatsbürgerschaft erhalten, entscheidet ein Gericht in Buenos Aires und das kann bis zu zwei Jahren dauern. „Wir hoffen, dass wir nächstes Jahr die Pässe in den Händen halten dürfen“, so die Russin.
Auch interessant: Putins Einfallstor: Beginnt auf dieser Insel der Dritte Weltkrieg?
Argentiniens Behörden beobachten mittlerweile mit Skepsis die steigenden Einreisen von schwangeren Russinnen. „Wenn wir nicht kontrollieren, wem wir die Staatsbürgerschaft geben, sinkt das Ansehen und das Vertrauen in den argentinischen Pass“, sagte die Leiterin der argentinischen Einwanderungsbehörde, Florencia Carignano, in einem Interview mit dem lokalen Fernsehsender TN. So besaßen die beiden russischen Spione, die Ende 2022 in Slowenien festgenommen wurden und im August 2024 durch einen Gefangenenaustausch zurück nach Russland kamen, ebenfalls einen argentinischen Pass. Das Paar lebte zeitlang mit seinen beiden Kindern in Buenos Aires.
Auch interessant
Indes warnt auch die russische Regierung vor Geburtstourismus im Ausland: Der Duma-Abgeordnete Witali Milonow will für Frauen, die im Ausland gebären, Einschränkungen einführen, weil sie „geringe soziale Verantwortung“ hätten. Auch die Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Frauen und Kinder, Nina Ostanina, verlangt Sanktionen, um russischen Frauen „Mutterschaftstourismus“ zu verbieten.
- Geburtenrückgang: Kinderzwang in Russland? Das ist Putins Familien-Plan
- Putins Gefangene: 16-Jähriger in russischem Gefängnis: „Mama, ich werde sterben“
- Kursk-Offensive: „Alles pfiff über uns“: Russen berichten von blankem Chaos
- Schreckliche Traumata: Verroht durch den Krieg: Junge Russen rasten immer öfter aus