Moskau. Die Ukraine trägt den Krieg nach Russland. Die Menschen sind wütend – nicht nur über den Grenzschutz, sondern auch über fehlende Hilfe.

„Wir haben seit mehr als zwei Jahren Krieg! Ist bei uns eigentlich niemand darauf gekommen, mal an den Schutz der Staatsgrenze zu denken? Da sind uns ja nicht alle wohlgesonnen.“ Oleg, der mit seinem Sohn etwas außerhalb von Moskau auf seiner Datscha lebt, ist sehr verärgert. Darüber, dass „Truppen eines anderen Landes mit Panzern und schwerer Artillerie ungehindert die Staatsgrenze überqueren können“, sagt er unserer Redaktion.

Verärgerung ist bei vielen Russinnen und Russen spürbar – und Kritik kommt auch von prominenter Stelle. Unter denen, die sich äußern, ist der russische Parlamentsabgeordnete Andrei Guruljow. Es falle ihm schwer zu glauben, dass niemand von der Ansammlung feindlicher Truppen an der Grenze der Region wusste, so Guruljow laut einem Zeitungsbericht. 

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Im russischen Grenzgebiet herrscht mancherorts das blanke Chaos. Per Videoschalte in einer Krisensitzung mit Russlands Präsident Wladimir Putin offenbarte Alexej Smirnow, der amtierende Gouverneur von Kursk, wie unvorbereitet seine Region vom ukrainischen Einmarsch getroffen wurde. 120.000 Menschen seien inzwischen evakuiert worden, weitere 60.000 Menschen hielten sich noch dort auf, wo zur Sicherheit geräumt werden müsse.

Kursk: Gouverneur wird von Putin in Krisensitzung gemaßregelt

„Die Lage in der Region ist schwierig“, erklärte Smirnow. Auch in Teilen der Region Belgorod wurden Menschen in Sicherheit gebracht. So haben laut Berichten über die Hälfte der Einwohner der Stadt Schebekino ihre Heimat verlassen. 28 russische Ortschaften sollen inzwischen in ukrainischer Hand sein. Kiews Truppen seien auf 40 Kilometern Frontlänge bis zu zwölf Kilometer tief auf russisches Territorium vorgedrungen, so Smirnow in der Krisensitzung.

Viele Russen wollen nur noch weg aus Kursk. Doch so geordnet, wie es der Kreml darstellen will, geht die Evakuierung offenbar nicht vonstatten.
Viele Russen wollen nur noch weg aus Kursk. Doch so geordnet, wie es der Kreml darstellen will, geht die Evakuierung offenbar nicht vonstatten. © DPA Images | Uncredited

Kremlchef Putin sei ob dieser detaillierten Angaben verärgert gewesen, berichten Nachrichtenagenturen. Der Gouverneur solle sich nicht zur militärischen Lage äußern, sondern nur zu sozialen Fragen, habe ihn Putin gemaßregelt. Bislang hat es laut den Behörden zwölf Tote und 121 Verletzte gegeben – darunter zehn Kinder. Der Verbleib von 2000 weiteren Menschen ist völlig unklar, sie würden vermisst, heißt es. Hilfsorganisationen suchten sie jetzt.

Wir mussten das Haus verlassen, das wir selbst gebaut haben“, sagt Juri, ein Bewohner des Rylsky-Bezirks dem Onlineportal „regnum.ru“. Sein Haus liege 26 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Im Dorf seien Artilleriesalven zu hören gewesen, Drohnen seien über die Häuser geflogen. Trotzdem blieb die Mehrzahl der Menschen im Ort. Viele von ihnen lehnen eine Evakuierung kategorisch ab, schließlich haben sie dort ihr Eigentum und ihr Vieh.

Aljona: „Schüsse waren gegen halb zwei Uhr morgens zu hören“

Von einer chaotischen Flucht berichten viele Einwohner in sozialen Netzwerken. Aljona zum Beispiel, der aus dem Dorf Nikolajewo-Darino kommt. „Die Schüsse waren gegen halb zwei Uhr morgens zu hören“, sagte er. „Menschen saßen in den Kellern – es kam zu Explosionen. Dann rannten diejenigen, die fliehen konnten, zu den Autos, die in der Nähe waren. Alles pfiff über uns. Die Panzer fuhren hinein.“ Das alles sei sehr beängstigend gewesen.

Der Krieg kommt in Russland an: Bewohner eines Wohnhauses, das nach dem Beschuss durch die ukrainische Seite beschädigt wurde, stehen in der Nähe des Gebäudes in Kursk.
Der Krieg kommt in Russland an: Bewohner eines Wohnhauses, das nach dem Beschuss durch die ukrainische Seite beschädigt wurde, stehen in der Nähe des Gebäudes in Kursk. © DPA Images | Uncredited

„Es gab keine Evakuierung“, erzählt er. „Manche gingen zu Fuß, so wie ich.“ Am Samstag hatte Artjom Scharow vom russischen Zivilschutzministerium erklärt, es seien 60 Unterbringungszentren für Evakuierte eingerichtet worden. Die Menschen würden mit Bussen und Zügen evakuiert und erhielten in den Zentren die notwendige Hilfe. Solche Zentren gebe es nicht nur in der Region Kursk, sondern auch in anderen Regionen wie Tula, Woronesch, Moskau, Orjol, Lipezk, Kaluga und Twer.  

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Die tatsächliche Lage im Kriegsgebiet auf russischem Boden ist weiterhin unklar. Die Ukraine kontrolliert nach eigener Darstellung inzwischen etwa 1.000 Quadratkilometer der Region Kursk. Präsident Wolodymyr Selenskyj teilte bei Telegram ein Video des Berichts von Armeechef Oleksandr Syrskyj. Bei der Krisensitzung in Moskau sagte Putin, die Hauptaufgabe des Verteidigungsministeriums bestehe nun darin, „den Feind aus unseren Gebieten zu vertreiben und eine zuverlässige Grenzsicherung zu gewährleisten“.

Als eine politische Botschaft in Richtung Moskau sieht der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid den ukrainischen Vorstoß. Militärisch sei es offenbar das Ziel, russische Truppen zu binden, sagte Schmid unserer Redaktion. „Die Offensive hat aber vor allem auch politische Bedeutung und soll an Russland die Botschaft senden: ‚Ihr seid nicht unantastbar, ihr seid verwundbar.‘“ Ob die ukrainischen Kräfte genug Truppen hätten, um ihre Stellungen zu verfestigen, lasse sich schwer beurteilen, so Schmidt. Klargemacht habe die Ukraine bereits, dass sie die eroberten russischen Gebiete nicht dauerhaft besetzen wolle.

Putin lehnt Verhandlungen ab – und erteilt dem FSB einen Auftrag

Die Ukraine wolle mit dem Vorstoß ihre künftige Verhandlungsposition stärken, vermutete Putin. Verhandlungen aber lehne er ab. „Über welche Art von Verhandlungen können wir überhaupt mit Leuten reden, die wahllos Zivilisten und zivile Infrastruktur angreifen oder versuchen, Atomkraftwerke zu gefährden?“ Putin wies den Inlandsgeheimdienst FSB und die Nationalgarde an, ukrainische Späh- und Sabotagetrupps aufzuspüren und auszuschalten.

Ukraine kontrolliert angeblich 1000 Quadratkilometer in Russland

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    Die Grenzgebiete Brjansk, Kursk und Belgorod wurden zu Zonen einer Anti-Terror-Operation erklärt. „Trotz des Heranführens zusätzlicher Armeeeinheiten ist es bisher nicht gelungen, die Frontlinie zu stabilisieren“, schreibt der russische Militärblog „Rybar“. Doch Russlands Armee rückt langsam vor. Wohl nicht aus der Ostukraine, dort gehen die Kämpfe unvermindert weiter. Aber im russischen Grenzgebiet sind jetzt wohl auch tschetschenische Achmat-Spezialeinheiten aktiv.

    Ein Ziel der ukrainischen Invasion ist es, Druck auf den Westen aufzubauen. „Wir brauchen entsprechende Genehmigungen unserer Partner für den Einsatz von Langstreckenwaffen“, betonte Selenskyj. Es geht wohl auch um die Stärkung der Moral in der eigenen Bevölkerung – und zugleich darum, die Russen zu verunsichern. Doch Selenskyjs Strategie ist riskant. Zu befürchten ist, dass Putin sehr hart zurückschlagen wird – auch um die eigene Bevölkerung zu beruhigen.