Brüssel. Militärs und der BND warnen vor einer gefährlichen Schwachstelle der Nato: Moskau könnte hier das Bündnis testen – und den Krieg riskieren.
Wenn Nato-Militärs in geheimen Runden über ein Einfallstor für eine russische Aggression gegen die Nato nachdenken, fällt ihr besorgter Blick seit einiger Zeit auf eine einsame Insel hoch im Norden: Beginnt hier in ein paar Jahren der Dritte Weltkrieg? Oder wird die Nato bei einem Konflikt im nördlichsten Zipfel ihr Versagen erleben, was den Weg freimachen würde für Russlands Dominanz über ganz Europa?
Beides ist möglich in den düsteren Planspielen westlicher Militärs: Danach besetzen russische Truppen das zum Nato-Mitglied Norwegen gehörende Spitzbergen, eine strategisch wichtige Inselgruppe jenseits des Polarkreises. Wie bei der Invasion der Krim 2014 könnten „grüne Männchen“, russische Soldaten ohne Rangabzeichen, die Inselgruppe einnehmen und zuerst den einzigen Flughafen Longyearbyen besetzen – unter dem Vorwand, die russische Bevölkerung auf der Insel schützen zu müssen.
Die große Frage: Würde die Nato Kampftruppen einfliegen und eine Eskalation riskieren?
Die Soldaten würden unterstützt von russischen Agenten, die schon heute ganz legal auf dem norwegischen Eiland leben und die womöglich auf Waffenlager in einem Kohlebergwerk zurückgreifen könnten. Kein Nato-Soldat würde sich der Invasion zunächst entgegenstellen: Denn Spitzbergen ist seit hundert Jahren neutral und demilitarisiert. Die große Frage: Wird die Nato dann Kampftruppen einfliegen und zurückschlagen – und damit die Eskalation in einen Dritten Weltkrieg riskieren, weil die russischen Invasoren vielleicht schnell mit dem Atomwaffeneinsatz drohen? Oder wäre den Nato-Staaten der Preis für ein paar öde Inseln in der Arktis zu hoch – dann hätte die Allianz ihre Bewährungsprobe nicht bestanden, was ihr baldiges Ende einläuten könnte.
Die Frage bekommt neue Brisanz, denn jetzt hat der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), Bruno Kahl, die Schwachstelle öffentlich benannt: Russland werde in vier bis fünf Jahren in der Lage sein, ein Nato-Land zu besetzen, sagte Kahl in Berlin. Ausdrücklich nennt er dieses Szenario: ein schneller, entschlossener russischer Angriff auf Spitzbergen zur „territorialen Gebietsbereinigung“.
Kahl warnt: „Eine militärische Konfrontation wird zu einer möglichen Handlungsoption für den Kreml“. Im Ernstfall sei eher kein großflächiger Angriff zu erwarten, stattdessen könnte der russische Präsident Wladimir Putin versuchen, „die Beistandsverpflichtung der Nato auszuhebeln.“ Niemand weiß, ob es so kommt. Es gibt gute Gründe, die gegen ein militärisches Abenteuer Russlands sprechen. Die gab es im Fall der Ukraine allerdings auch. Seitdem ist es verstärkt Aufgabe der Nato wie der Sicherheitsbehörden, mögliche Schwachstellen zu identifizieren – und die Abschreckung entsprechend zu verstärken.
Die Nato-Bündnisgarantie gilt auch für Spitzbergen
Sicher ist: Spitzbergen ist eine der beiden Achillesfersen der Nato. Die andere ist das Baltikum. Doch während im Baltikum Tausende Nato-Soldaten einen Angreifer abschrecken sollen, gibt es in Spitzbergen keinen einzigen. Truppen und militärische Befestigungen sind hier untersagt. Die Inselkette Spitzbergen gehört seit 1920 zu Norwegen, doch wurde damals ein Vertrag geschlossen, der es anderen Staaten erlaubt, hier wirtschaftlich aktiv zu sein. Spitzbergen ist deshalb nicht Nato-Gebiet, Norwegen darf es nicht zu kriegerischen Zwecken nutzen – nur im Verteidigungsfall, wenn andere den neutralen Status gefährden, würden Nato-Truppen hierher verlegt. Denn darauf legt Norwegens Regierung Wert: „Die Bündnisgarantie gilt auch für Spitzbergen“.
Die Russen sind aber schon hier. Sie konzentrieren sich auf Barentsburg auf der Hauptinsel, dort betreiben sie in überschaubarem Rahmen Kohlebergbau – aus strategischen, nicht aus wirtschaftlichen Gründen. Rund 400 Russen leben in Barentsburg, sie können sich ganz ohne Visum legal dort aufhalten und sind bei Bedarf mobilisierbar: Beim russischen „Tag des Sieges“ im vergangenen Jahr veranstalteten sie in Barentsburg eine Siegesparade mit Trucks, Bussen und Hubschraubern.
Eine Provokation, die die Regierung in Moskau in sozialen Medien stolz zur Schau stellte. Der Vorfall gehört zu einer Serie von Nadelstichen der Russen. Dazu zählt die Spionage durch angebliche Forschungsschiffe. Oder vor drei Jahren das Kappen von Unterseekabeln, die die Satellitenstation auf Spitzbergen mit dem Festland verbindet; mutmaßlich verantwortlich war ein russischer Fischtrawler.
Russland rüstet in der Arktis seit Jahren massiv auf, es beansprucht eine Führungsrolle in der Region. Russland ist aber auch verletzlich: Auf seiner Halbinsel Kola ist die Nordflotte stationiert mit Raketenkreuzern und vor allem mit Atom-U-Booten, die Russland im Fall eines Angriffs die Zweitschlags-Fähigkeit garantieren sollen. Wenn aber die U-Boote und Schlachtschiffe den Atlantik erreichen wollen, müssen sie die Route zwischen Spitzbergen und dem norwegischen Festland nehmen. Im Kriegsfall dürfte die Nato versuchen, das Nadelöhr zu schließen. Das macht Spitzbergen so wichtig auch für Moskau.
Experte: Spitzbergen ist ein „Mini-Donbass“
Das Nordpolargebiet zählt die Kreml-Propaganda inzwischen zum russischen Mutterland. Auch das erinnert an die Ukraine. Der Arktisexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, Michael Paus, nennt Spitzbergen deshalb, aber auch wegen der russischen Einwohner, ein „Mini-Donbass“. Die Nato sieht die Gefahr. In der Region hält die Allianz verstärkt größere Militärübungen ab, doch liegen die Fähigkeiten in der arktischen Region derzeit hinter denen Moskaus zurück. Im Bündnis wird nun über eine verstärkte Nato-Präsenz in Norwegen diskutiert. Aber reicht das, um Moskau abzuschrecken?
In den Planspielen der Militärs für Spitzbergen wie für das Baltikum würde Russland nach einer Besetzung mit einem Atomwaffeneinsatz drohen, um die Nato vom Gegenangriff abzuhalten. Es wäre der ultimative Test, ob die Bündnisgarantie der Allianz gilt – verbunden mit dem Risiko eines Flächenbrandes. Die Ungewissheit gibt es seit Jahrzehnten, der künftige US-Präsident Donald Trump hat sie aber mehrfach mit Drohungen gegen Nato-Staaten befeuert. BND-Chef Kahl berichtet, hochrangige russische Regierungsvertreter hegten inzwischen Zweifel, ob die Beistandsverpflichtung im Ernstfall halten würde. Bliebe aber ein Angriff auf ein Nato-Mitglied ohne Antwort, wäre das Bündnis am Ende, Putin hätte sein Ziel erreicht: Ein Scheitern der Nato als Verteidigungsbündnis. Anschließend könnte Russland seine Machtansprüche in Europa aggressiver durchsetzen.
Für eine umfassende Offensive auf Nato-Gebiet ist Russland dagegen nicht gerüstet: Die Nato hat 3,5 Millionen Soldaten unter Waffen, mit der modernsten Armee der Welt und einem großen Atomwaffen-Arsenal. Ein Angriff russischer Panzertruppen auf Warschau oder Berlin gilt vor diesem Hintergrund als weitgehend ausgeschlossen. Eine russische Provokation in Spitzbergen, die unkontrolliert zu einer dramatischen Eskalation zwischen Russland und der Nato führen könnte, wäre allerdings am Ende nicht weniger bedrohlich.
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