Die Wahlbürger nehmen die EU als monströses Kunstgebilde wahr, die Wahlbeteiligung am Sonntag wird aller Voraussicht nach gering ausfallen. Populistisch angereicherte Kritik an der Brüsseler Bürokratie darf die Vision eines trotz aller Krisen zusammenwachsenden Europa aber nicht verfinstern.
Verständnislos und voller Sorge nehmen jene Gutmenschen, die sich im politischen Geschäft oder den Medien für Europa dieser Tage besonders stark machen, zur Kenntnis, dass sich eine Mehrheit der Bürger den Wahlen zum Europäischen Parlament verweigert. Die besser Gebildeten, heißt es, werden am Sonntag zu den Urnen gehen – und die älteren Wähler aus einem Gefühl der Pflicht. Seit 1979 ist die Wahlbeteiligung europaweit auf gut 40 Prozent gesunken, obgleich das Europäische Parlament an Kompetenz gewonnen hat wie keine andere Institution und mächtiger ist als der Bundestag. Gut Dreiviertel der Gesetzgebung unterliegen dem Mitentscheidungsverfahren, in dem die 736 Abgeordneten aus 27 Staaten auf Augenhöhe mit der EU-Kommission agieren.
Die Wahlbürger indessen nehmen die EU als monströses Kunstgebilde wahr, wenig fassbar, zumal die Fixierung auf prominente Politiker fehlt und die EU wohl gerade deshalb Gleichmut provoziert, weil sie, intransparent zwar, funktioniert. Kein Zweifel: Dem europäischen Einigungsprojekt, auf Demokratie, Frieden und Wohlstand gegründet, mangelt es an Glaubwürdigkeit, obgleich die EU die ins Trudeln geratene Weltwirtschaftskrise durchaus beherzt pariert hat. Über Jahre hat sich die EU über ihre materielle Leistung und den Willen einer Mehrheit ihrer Bürger definiert, wesentliche Bereiche des Zusammenlebens einheitlich zu regeln. Nach dem Kollaps der Finanzmärkte und dem drohenden Bankrott ganzer Volkswirtschaften werfen verlogene Euro-Skeptiker die Frage auf, ob die Souveränität eines Staates außerhalb der EU nicht größer sei.
Wichtiger internationaler Akteur
Die Globalisierung, erst recht die schwere Wirtschaftskrise, haben deutlich gemacht, dass die Probleme nur europäisch angegangen werden können, wenn, ja wenn dieser Kontinent, der größte Wirtschaftsraum der Welt, mit seinen 500 Millionen Menschen ein wichtiger internationaler Akteur in der neuvermessenen Welt bleiben will.
Nun scheint die Krise jedoch gezeigt zu haben, dass nicht die Institutionen in Brüssel, sondern die angeblich im Niedergang befindlichen Nationalstaaten jene Rettungsschirme aufspannten, um Konkurs bedrohten oder systemisch-unverzichtbaren Unternehmen den Untergang zu ersparen. Mit dem Effekt, dass den EU-Mitgliedern die Staatsschulden bis zur Halskrause reichen und die verabredeten Stabilitätskriterien gefährden. Gleichwohl läuft ohne die EU-weit beschlossenen Ziele nichts – im einheitlichen Binnenmarkt nicht, im regulierten Wettbewerb nicht, in der Kontrolle unlauterer Subventionen schon gar nicht. Und ohne die in der Euro-Zone verbreitete einheitliche Währung, von der Zentralbank sorgfältig überwacht, wäre die Finanzkrise ungleich verheerender über Europa herein gebrochen.
Und dennoch: In der Wahrnehmung etlicher EU-Bürger, die so gern ihre europäische Identität spielen lassen, aber zur EU auf Distanz gehen, hat die in den USA geplatzte Finanzblase die Erwartungen an die Organisationstalente der EU enttäuscht – nicht zuletzt wegen einer schwachen, in sich zerstrittenen tschechischen Präsidentschaft, mit einem irrlichterndem EU-Feind als Staatschef. Aber geschadet hat das nicht: Prag wurde die Regie entrissen.
Weichenstellung für die nächsten fünf Jahre
Die Wahl am Sonntag ist eine Weichenstellung für die nächsten fünf Jahre europäischer Politik. Im Unterschied zu nationalen Parlamenten wird das EP nicht dominiert von Parteien oder Koalitionen. Entscheidungen laufen oft über die politischen Gräben hinweg. Zum Leidwesen der europäischen Abgeordneten wird deren wachsender Einfluss auf die Kommission nicht hinreichend registriert. Mit dem Lissabonner Reform-Vertrag, der wohl noch in diesem Jahr die letzten Hürden nehmen wird, wird dieses Gewicht verstärkt: Keiner der 27 EU-Kommissare könnte ohne Plazet des EU-Parlamentes sein Amt ausüben.
Richtig bleibt gleichwohl, das Demokratie-Defizit der EU zu beklagen. Entscheidungen der Regierungschefs auf Gipfel-Ebene können von den nationalen Parlamenten nicht revidiert werden, geschweige denn vom Souverän, den Bürgerinnen und Bürgern. Dies ist auch einer der Gründe, warum Referenden zu Europa – wie in Irland – aus Sorge der Wahlbürger scheitern, ihre demokratischen Kontrollrechte einzubüßen.
Dieses Europa, das mitunter selbstquälerisch daher kommt, mit dem sich aber kaum eine andere Weltregion an Wirtschaftskraft, Freiheit und Lebensqualität messen kann, verdient mehr demokratische Beteiligung. Der Reformvertrag von Lissabon ist ein wesentlicher Schritt zu mehr Demokratie. Kleinliche, populistisch angereicherte Kritik an der Brüsseler Bürokratie, darf die Vision eines trotz aller Krisen zusammenwachsenden Europa nicht verfinstern. Europa bleibt ein faszinierendes Erfolgsprojekt, erstaunlicherweise mehr für jene, die in die EU streben als diejenigen, die mitunter verdrängen, das es in der Geschichte für den Erfolg der europäischen Idee keinen Präzedenzfall gibt.