Düsseldorf.
„Haben Sie keine Playstation?“, zieht Hendrik Wüst meinen Deutschlandfunk-Kollegen Moritz Küpper Anfang Januar am Rande eines Interviews auf, kurz nachdem er erfahren hat, dass wir gemeinsam ein Buch über ihn schreiben werden. „Na ja, jeder verbringt seinen Sommerurlaub so, wie er will“, spottet der NRW-Ministerpräsident noch mit Blick auf die Schlussredaktion des geplanten Bandes Mitte des Jahres.
Es wird damals nicht vollends klar, ob Wüst ein solches Buch als Interpretationsangebot zu seiner Persönlichkeit und Politik als Chance begreift oder als PR-Risiko scheut. Bei seinem Amtsvorgänger Armin Laschet, den wir ebenfalls lange begleitet und 2020 in Buchform porträtiert hatten, konnte der CDU-Hoffnungsträger die Kaleidoskop-Wirkung solcher journalistischen Annäherungen erleben: Jeder guckt rein und sieht etwas anderes; mal schillert es mehr, mal weniger. Für jemanden wie Wüst, der Eindeutigkeit schätzt und Unwägbarkeiten scheut, ist das keine gute Voraussetzung. Doch der 48-Jährige versteht sich als politischer Vollprofi, weshalb er sich natürlich Zeit für uns nimmt und die Deutung nicht allein den fast 100 Weggefährten, Freunden, Gegnern, Konkurrenten oder Kritikern überlässt, die wir sonst noch so abklappern werden. Wüst kann sogar ein unterhaltsamer Erzähler sein, der sich unkompliziert gibt – sofern kein Mikrofon in der Nähe ist und keine Kamera läuft.
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Politik betreibt er wie Leistungssport
Wir treffen einige Zeitzeugen, die einräumen, Wüst seit 20 Jahren zu kennen und doch nicht so richtig zu wissen, wer er eigentlich ist. Wüst erscheint schließlich als Wandlungskünstler der Macht. Seit er mit 15 die Junge Union in seiner münsterländischen Heimatstadt Rhede wiederbelebte, hat er es immer wieder geschafft, ein neues öffentliches Bild von sich zu entwerfen. Er startete als schneidiger Jungunionist, machte Karriere als rechter Hardliner, erfand sich nach einem Absturz als Mann des CDU-Wirtschaftsflügels neu und kommt heute im Gewand des sanften Konservativen mit schwarz-grüner Agenda daher.
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Im Kollegengespräch haben wir Wüst gern „Machtwandler“ genannt, weil er den Zeitgeist mit dieser traumwandlerischen Sicherheit zu lesen versteht. Weil er Politik diszipliniert betreibt wie ein Leistungssportler und sich programmatisch immer wieder häutet, wenn es angezeigt erscheint. Der Machtwandler ist auch der Titel des Buches geworden. Es ist die Geschichte eines Mannes, der sich seit Jahrzehnten irgendwo auf der Nahtstelle zwischen Opportunismus, Anpassungsfähigkeit, Cleverness und Flexibilität bewegt. Inzwischen sogar Richtung Kanzlerkandidatur 2025.
Nach vielen Jahren der Wüst-Nahbeobachtung lässt sich sagen: Wer von einem Politiker Thementreue, Authentizität, rhetorische Wucht und Charisma erwartet, könnte bessere Protagonisten finden. Wer hingegen jemanden an der Spitze will, der fehlerfrei die immer komplizierteren Erwartungen des Souveräns antizipieren kann wie ein Algorithmus, ist bei Wüst genau richtig.
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Mit filigranem Populismus
Die milieuscharfe und emotionale Bindung der Bürger an einzelne Parteien nimmt schließlich ab, die Wahlentscheidung wird immer stärker zur Frage der aktuellen Typen- und Themenkonjunktur. Und da liefert Wüst einfach bessere Fotos als der lachende Laschet. Er bietet weniger Verhetzungspotenzial als sein immer wieder aus der Hüfte formulierender Parteichef Friedrich Merz. Und er wirkt zugewandter als der hanseatisch-wortkarge Kanzler Scholz, wenn er als junger Familienvater von den Windeln seiner Tochter „Pippa“ erzählt oder mit Ehefrau „Kate“ beim Deutschen Filmpreis in der ersten Reihe seinen Hochzeitstag feiert.
Mag die Opposition ihn als „Insta-Präsidenten“ verhöhnen, der es nur auf schöne Fototermine statt auf politische Problemlösung abgesehen habe – sie dringt damit nicht durch, weil Wüsts Populismus filigraner ist als etwa der seines alten Kumpels Markus Söder.
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Zu den erstaunlichsten Erfahrungen bei der Wüst-Beobachtung gehört für uns, dass er seine Fotogenität zwar sehr bewusst als Machtmittel einsetzt, dabei aber einer für den Politikbetrieb selten uneitlen Matrix folgt. Man könnte sogar sagen, dass der nicht sonderlich belesene Wüst als einer der wenigen seines Fachs Max Weber verstanden hat, der schon vor 100 Jahren schrieb: „Einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind hat der Politiker täglich und stündlich zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit, die Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall: der Distanz sich selbst gegenüber.“
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Wer sich als Journalist näher mit Wüst beschäftigt, ertappt sich deshalb bei einem permanenten inneren Ringen. Einerseits kann man daran verzweifeln, wie konsequent er zumindest öffentlich Problemthemen aus dem Weg geht. Sein Ministerpräsidenten-Alltag scheint eine Endlosfolge an Ehrungen, Grußworten und Empfängen zu sein. Seine Reden, die er oft wortgetreu vom Blatt abliest, sind meist durchsetzt mit Schaumküssen aus der Begriffskonditorei wie „Krise braucht Klarheit“ oder „Eine warme Wohnung darf kein Luxus sein“.
Wie einst Johannes Rau hüllt Wüst alles in Behaglichkeit und nutzt den Umstand, dass seine Partei zurzeit nicht in der Bundesregierung sitzt. Seine Debattenkultur besteht im Wesentlichen darin, einmal pro Quartal mit einer massiven Interview-Offensive Richtung Berlin zu zeigen. Dann geht er ins Frühstücksfernsehen, in die Morgensendungen der Radiostationen und platziert obendrauf ein Print-Interview mit substanziell nur einer Kernbotschaft: „Der Bund muss handeln.“
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Sehnsucht nach „echten Typen“
Man kann sich darüber wundern, dass das ausreicht, um als „Politiker des Jahres“ (Quadriga Hochschule) und „Posterboy der nächsten CDU-Generation“ (Spiegel) bereits Kanzlerflughöhe zu erreichen. Andererseits scheint es sich mit Wüsts Art, Politik zu machen, bisweilen so zu verhalten wie mit Artistik: Was leicht aussieht, ist oft ungeheuer schwer.
Politiker müssen heute jederzeit damit rechnen, mit besonderer Elle gemessen zu werden. Sie haben immerzu den richtigen Eindruck zu erwecken oder besser noch: den falschen zu vermeiden. In einer meinungsstarken, bildmächtigen Echtzeitgesellschaft sind sie nie außer Dienst, sondern permanent auf der Hut. Jeder Mitschnitt einer Parlamentsrede, jede Szene einer Podiumsdiskussion, jeder Videoschnipsel einer unbedeutenden Abendveranstaltung irgendwo in der Provinz kann durch den Katalysator der sozialen Medien mittlerweile Karrieren beenden.
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Es gibt – auch unter Journalisten – eine diffuse Sehnsucht nach „echten Typen“ wie Strauß, Brandt oder Kohl. Aber die Gnade der frühen Geburt hat ebenjenen den Praxistest eines veritablen Shitstorms in der modernen Mediendemokratie erspart. Angela Merkel hatte vielleicht als Erste erkannt, dass Mehrheiten in einer gesellschaftlichen Mitte gewonnen werden, die nicht mit politischem Streit und allzu kühnen Entwürfen behelligt werden will.
Er denkt gern in Bildern
Wüst, der schon mit 15 Pressereferent der Jungen Union war und später als Geschäftsführer der Zeitungsverlegerbandes NRW die Branche sorgsam studiert hat, versteht viel von öffentlicher Wirkung. Sein Credo: „Stay with your Message“ – immer bei derselben Botschaft bleiben. Und das am besten gut gelaunt. Manchmal klammert er in öffentlichen Äußerungen sogar bereits das eine Zitat, das hängenbleiben soll, für die Zuhörer ein: „Vielleicht der wichtigste Satz ...“, moderiert er sich dann selbst an. Man kann sich über seine hölzerne Adressatenorientierung lustig machen, was wir Journalisten oft genug tun. Auch Wüsts Denken in Bildern und seine Ausrichtung an Meinungsumfragen werfen gelegentlich die Frage auf, ob er noch auf Mehrheitssuche für ein politisches Anliegen ist – oder ob das politische Anliegen bei ihm längst die Mehrheitssuche an sich ist.
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Der Köder muss dem Fisch schmecken
Dabei blendet man gelegentlich die Größe seiner Aufgabe aus. Wenn Wüst Kanzler werden will, was immer mehr Menschen innerhalb und außerhalb der Union glauben, dann muss er als Projektionsfläche für eine immer weiter ausfransende Unionswählerschaft funktionieren. Er ist wohl am besten geeignet, alle drei Wurzeln seiner Partei gleichermaßen zu wässern: die christlich-soziale, die liberale und die konservative. Dabei wirkt er manchmal beliebig, aber was wäre die Alternative, um nach rechts zu integrieren, ohne die Mehrheitsfähigkeit in der Mitte zu verlieren? Mit konservativer Kantigkeit versuchte schon CDU-Chef Merz vergeblich, die AfD zu halbieren.
Wüst hat die alte Politiker-Weisheit verinnerlicht, dass der Köder immer dem Fisch schmecken muss und nicht dem Angler. Er passt sich den Publikumserwartungen an und mutet dem Wahlvolk nichts zu. Es muss in konfliktreichen Zeiten ja nicht falsch sein, Widerstände zu antizipieren.
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Andererseits: Hatte bislang nicht nahezu jeder Kanzler irgendwann auch mal gegen eine Mehrheitsmeinung Kurs zu halten? Adenauer und die Wiederbewaffnung, Brandt und die Ostpolitik, Schmidt und der deutsche Herbst, Kohl und der Euro, Schröder und die Agenda 2010, Merkel und die Flüchtlinge, Scholz und die Zeitenwende. Auf welche Stimme, das fragt man sich selbst als Buchautor etwas ratlos, würde in einem solch schweren Moment der politische Mr. Perfect Hendrik Wüst hören?z
Das Buch
„Hendrik Wüst. Der Machtwandler. Karriere und Kalkül“ist soeben im Klartext-Verlag erschienen. Das Porträt des NRW-Ministerpräsidenten umfasst 224 Seiten und kostet 22 Euro.
Die Autoren: Tobias Blasius arbeitet seit vielen Jahren als landespolitischer Korrespondent der Funke Mediengruppe in Düsseldorf und ist Vorsitzender der Landespressekonferenz NRW. Moritz Küpper ist Redakteur und Moderator beim Deutschlandfunk mit Sitz in Köln.
Blasius und Küpper hatten 2020 bereits gemeinsam das Buch „Der Machtmenschliche“ über den späteren CDU-Chef und Kanzlerkandidaten Armin Laschet veröffentlicht.
Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen.Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.