Dortmund/Berlin. Er erschoss in Dortmund einen Polizeibeamten, setzte sich in die DDR ab. Der Fall des RAF-Mitglieds Werner Lotze gibt bis heute Rätsel auf.

Herbst 1978. Am 24. September, ein Sonntag, gehen der erst 24-jährige Hans-Wilhelm Hansen und sein Kollege Otto Schneider in dem Waldstück „Am Zickenbrink“ im Dortmunder Süden auf Streife, als sie auf einer Lichtung drei Mitglieder der Rote Armee Fraktion stoßen. Das Trio ist mit Schießübungen beschäftigt. Binnen Sekunden verwickelt die Guerilla die Beamten in ein Feuergefecht. RAF-Frau Angelika Speitel, ihr Komplize Michael Knoll und Schneider werden verletzt, Knoll wird den Schusswechsel nur wenige Tage überleben. Der Polizist Hans-Wilhelm Hansen stirbt am Tatort. Sein Kollege Otto Schneider hat noch mitbekommen, wie ein unverletzter dritter Täter dem am Boden liegenden Hansen in den Rücken feuert. Dann sei der Unbekannte zwischen Bäumen „wie ein Schemen“ verschwunden.

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An der Laterne einer Seitenstraße im Dortmunder Stadtteil Lücklemberg erinnert heute ein blaues Schild an diesen Mord. „H. W. Hansen“ sei „in Ausübung seines Dienstes von Terroristen erschossen“ worden. Den Namen des Schützen nennt das Schild nicht. Dabei ist die Tat geklärt. Hansens verurteilter Mörder ist Werner Lotze, damals 26, gebürtig aus Mülheim an der Ruhr. Er wird später seine wechselvolle Geschichte erzählen. Ist sie glaubwürdig?

Der Dortmunder Mord ist 45 Jahre her. Doch der Lebenslauf des Täters wirft heute immer noch Fragen auf.

Ein Geständnis unter Tränen

Werner Lotze auf einem Fahndungsfoto in den 70er-Jahren.
Werner Lotze auf einem Fahndungsfoto in den 70er-Jahren. © picture-alliance / dpa | MMM

Zwölf Jahre nach dem tödlichen Gefecht im Zickenbrink, im Sommer 1990, ist die Berliner Mauer gerade gefallen und der schemenhaft Verschwundene sitzt vor Oberstaatsanwalt Klaus Pflieger. Pflieger klärt für die Bundesanwaltschaft Terrorverbrechen der RAF. Jetzt will er die Wahrheit vom Terroristen Werner Lotze erfahren, der kurz zuvor auf dem Gebiet der Noch-DDR verhaftet worden war, so wie neun andere RAF-„Aussteiger“ auch. Sie hatten im SED-Staat zehn Jahre Unterschlupf gefunden. Mitten im Verhör kommen Lotze die Tränen. Er gesteht den vor seiner DDR-Zeit liegenden Mord in Dortmund. Pflieger: „Ich habe selten erlebt, wie ein Beschuldigter bei mir geheult hat. Wir hatten im Haftbefehl nur zwei Banküberfälle, und er gesteht mir, dass er diesen Polizisten mit einem aufgesetzten Schuss in den Rücken umgebracht hat“.

Den Oberstaatsanwalt überrascht noch mehr. Denn Lotze packt aus. „Er hat 14 Tage geredet, alles erzählt und andere verraten“. Der Hansen-Mörder nutzt das neue Kronzeugen-Gesetz, das bei einer Zusammenarbeit mit dem Staat und bei Aussagebereitschaft einen Strafrabatt verspricht. Der Mülheimer wird zum ersten Kronzeugen der Bonner Republik, und der Staat hält die gegebene Zusage ein. Trotz Mord und Urteil wird Lotze nach sechs Jahren Haft frei kommen.

Lotzes Geschichte(n)

Werner Lotze war Sohn einer Krankenschwester und eines Schuhmachers, Spitzensportler beim Mülheimer Rennruderclub, Anglistik-Student an der Bochumer Uni. Dort geriet er ins terroristische Umfeld. Im August 1978 tauchte er in die Illegalität der RAF ab und will sich – nach dem Polizistenmord und einem fehlgeschlagenen Anschlag auf Nato-Oberbefehlshaber Alexander Haig – vom Terror losgesagt und zwischen 1980 und 1990 unter Schutz der Stasi in der DDR versteckt haben. Unter dem Namen Manfred Janssen, als Schichtführer im VEB Synthesewerk Schwarzheide in Senftenberg bei Cottbus. Verheiratet. Vater einer Tochter.

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Stimmt seine Erzählung vom nur kurzen RAF-Engagement? Hat Lotze „nur“ einmal gemordet, 1978 in Dortmund? Oder kann es sein, dass er ein zweites Mal tötete – bei einer der „Westreisen“ während seiner DDR-Zeit, die er dem Oberstaatsanwalt Pflieger verschwiegen hatte, die aber aus einem Stasi-Dokument herauszulesen sind?

Ein Leberfleck

Gauting, 1985: Der Tatort des Mordes an Ernst Zimmermann, Vorstandsmitglied der Motoren- und Turbinen Union (MTU).
Gauting, 1985: Der Tatort des Mordes an Ernst Zimmermann, Vorstandsmitglied der Motoren- und Turbinen Union (MTU). © picture-alliance / dpa | MMM

Gauting, 1. Februar 1985. In dem Städtchen bei München wird der Chef der Motoren- und Turbinenunion MTU, Ernst Zimmermann, ermordet. Ein junges Paar hatte sich gewaltsam Zutritt zu seinem Haus verschafft. Die gefesselte Ehefrau muss zusehen, wie der männliche Eindringling den Rüstungsmanager mit einem Genickschuss tötet. Eine Hinrichtung. Stunden später bekennt sich die RAF zur Täterschaft – und Ingrid Zimmermann macht eine entscheidende Aussage: Der Mörder habe einen Leberfleck oberhalb der linken Oberlippe, sagt sie den Ermittlern. Nur einer der per Steckbrief gesuchten RAF’ler hat so ein Muttermal: Werner Lotze. Am Tatabend wird sein TV-Fahndungsbild bundesweit ausgestrahlt. Mehr als zwei Dutzend Unschuldige hat die RAF zu diesem Zeitpunkt auf dem Gewissen. Der Gautinger Mord ist der erste ihrer „dritten Generation“. Weitere sieben werden folgen, unter den Opfern sind Spitzenmanager wie Karl-Heinz Beckurts, Alfred Herrhausen und Detlev Carsten Rohwedder. Keiner der Täter in diesen Fällen wurde je überführt. Noch heute laufen die Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt.

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Ferngelenkte Mörder?

Bonn, 15. Juni 1990. In der noch jungen Zusammenarbeit der Polizeibehörden von Ost und West ist das komplette „Asyl“ aufgeflogen, das das inzwischen abgedankte SED-Regime den RAF-Terroristen in Ostdeutschland gewährt hatte. Am Vortag wurde dort auch Werner Lotze festgenommen. In einer Sondersitzung des Bundestags-Innenausschusses fragen wütende Abgeordnete: Wussten die Regierungen Schmidt und Kohl von dem RAF-Versteckspiel in der DDR? War die Stasi in die Morde der dritten RAF-Generation verwickelt? Der SPD-Abgeordnete Willfried Penner, zuvor Oberstaatsanwalt in Wuppertal, spricht in der NRZ von einer „verbrecherischen Komplizenschaft“ zwischen DDR und RAF, „es sind Anhaltspunkte da, dass die DDR auch ein Nest für den internationalen Terrorismus war“.

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Tags darauf liefert die Süddeutsche Zeitung unter der Zeile „Der Tod – ferngelenkt aus Ostberlin?“ Details des Verdachts gegen Lotze im Mordfall Zimmermann. Die Indizien seien „eindeutig“. Und: „Wenn Lotze seit 1980 in der DDR gelebt hat, dann hat er mit Wissen und Billigung des Staatssicherheitsdienstes, vielleicht sogar mit dessen Unterstützung Terrortaten in der Bundesrepublik verübt“.

Terror – ferngelenkt durch die DDR? Das ist politisch heikel für die von Bonn lange gepflegte Ostpolitik. Die Bundesanwaltschaft besänftigt. Inzwischen haben DDR-Kriminalbeamte ins Schichtbuch des Senftenberger Betriebs geguckt. Lotze habe danach zum Tatzeitpunkt dort gearbeitet. Ein Alibi. Gegen ihn bestehe im Zusammenhang mit Zimmermann „kein dringender Tatverdacht“. Doch warum der Eintrag in Papieren eines SED-Staatsbetriebs stärker zu gewichten ist als die Aussage der einzigen Mordzeugin über ein Muttermal des Täters – das bleibt so unklar wie weitere Widersprüche im Lebenslauf.

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Lotze selbst reduziert seine Terror-Tätigkeit auf knappe eineinhalb Jahre von August 1978 bis 1980. Das BKA weiß mehr: Schon bei der Schleyer-Entführung 1977 war er demnach von Paris aus „Briefbote“ der RAF für deren Bekennerschreiben. Wenn Lotze nicht nur 1978 den Polizisten Hansen in Dortmund tötete, sondern 1985 auch den MTU-Manager Ernst Zimmermann im bayerischen Gauting – wie soll das während seiner zehnjährigen Versteck-Zeit in der DDR möglich gewesen sein?

Die „Fahndung West“

„Streng geheim“ ist die „Information“ der Abteilung XXII der Staatssicherheit überschrieben. Das DIN-A4-Blatt stammt vom 19. März 1989. Da lebt die DDR noch. Es folgen Daten von: Lotze, Werner. Weiterer Vorname: Bernhard. Geburtsdatum: 22.02.1952. Geburtsort: Mülheim an der Ruhr. Ein Hinweis: Bewaffnet. Im Papier steht, dass Beamte des Bundesgrenzschutzes den Mann am 29. Januar 1989 um 17.30 Uhr am deutsch-niederländischen Übergang Emmerich in ihrem Fahndungssystem Inpol erfasst haben. Das Dokument, das unsere Redaktion einsehen konnte, stammt aus einem Stasi-Projekt mit dem Namen „Datenverarbeitung Fahndung West“. Die DDR hat in den 80er-Jahren das westdeutsche Fahndungssystem Inpol ausspioniert, um so den „Schutz der Kundschafter, Reisekader und operative Maßnahmen des MfS im Operationsgebiet“, der Bundesrepublik, sicherzustellen. Die Unterlagen des Projekts werden derzeit von der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin digitalisiert. Die Kopien der archivierten Inpol-Abgriffe enthalten Reise-Informationen über Lotze für die Monate des Jahres 1989 bis zum Mauerfall am 9. November. Allein in diesem Zeitraum wurde der in der DDR versteckte Terrorist an sechs Terminen sicher an westdeutschen Grenzübergängen verortet, etwa in Kehl, Puttgarden oder am Flughafen München.

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Weitere Dokumente belegen, dass Lotze seit 1984 „Operativgeld“ erhalten hat. Wofür? Die Inpol-Blätter der Abteilung XXII bleibt mysteriös. Sie zeigen zu Lotze und den anderen „Aussteigern“, dass diese während ihrer Jahre in der DDR von 1980 bis 1990 häufig im Westen unterwegs gewesen sein müssten. Waren sie womöglich Teil der mysteriösen „3. Generation“ der RAF?

Nach der Haftverbüßung ist die Justiz nie wieder gegen Lotze vorgegangen. Das Thema einer DDR-Verwicklung in den RAF-Terror war im Einheitsrausch schnell vergessen. Der Frage, warum der Grenzschutz Lotze laut Stasi-Papier an den Grenzen zwar erkannt und registriert, aber nicht festgenommen hat, wurde nie nachgegangen.

Werner Lotze, der erste Kronzeuge der RAF, lebt heute unter einem anderen Namen an einem unbekannten Ort.

Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei.Hier können Sie sich freischalten lassen.Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.