Bonn. Vor 50 Jahren wurde Spion Günter Guillaume enttarnt. Doch die DDR hatte einen zweiten Spitzel auf Willy Brandt angesetzt. Er kam aus dem Revier.

Der vorletzte Februartag 1973. Der Oberamtsrat Heinrich Schoregge sitzt mit seinem Freund und Kollegen Bergmann in der Verfassungsschutz-Kantine im Kölner Stadtteil Nippes. Sie wollen eine Kaffeepause machen. Aber die Stimmung ist nicht gut. Schoregge geht diese unbekannte Person nicht aus dem Kopf. In drei ganz unterschiedlichen Fällen aus den vergangenen Monaten war der Beamte der Abteilung Spionageabwehr auf eine Person mit französisch klingendem Namen gestoßen – und das immer als scheinbar unwichtiger „Beifang“ anderer Vorgänge. So auch jetzt in Berlin, wo die Fahnder den Düsseldorfer DGB-Sekretär Wilhelm Gronau gemeinsam mit seinem Führungsoffizier von der DDR-Staatssicherheit unter Spionageverdacht festnehmen konnten. Bei dem Stasi-Offizier fand man dabei ein DIN-A-4-Blatt mit den Daten einer Funkverbindung in den Osten – und erneut mit dem mysteriösen Namen: Guillaume.

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Als sein Gesprächspartner Schoregge sagt „Ich glaube, ich habe da einen krummen Hund“, dämmern Oberregierungsrat Helmut Bergmann weitere Zusammenhänge. Über zehn Jahre zuvor hatte man einen „G“, oder auch „Georg“, gesucht, nachdem verdächtige Botschaften in abgehörten Funksprüchen der DDR-Auslandsspionage aufgetaucht waren. Die Suche war erfolglos geblieben. Aber war dieser „G“ von damals identisch mit dem Guillaume von heute?

Kaffeeplausch mit Folgen

Der Kaffeeplausch in Nippes vor jetzt 50 Jahren hat letztlich den größten deutschen Spionageskandal der Nachkriegszeit auffliegen lassen. Es war eine Affäre mit enormen politischen Folgen. Die Spur der Verfassungsschützer führte zunächst zu Geburtstags-Gratulationen aus der Ost-Berliner Spionage-Zentrale an diesen „G“ – per Funk, immer zum Datum 1. Februar. Am 1. Februar, so fand man heraus, hatte auch der persönliche Referent von Bundeskanzler Willy Brandt Geburtstag. Er war zuständig für Partei, Verbände und Gewerkschaften. Sein Name: Günter Guillaume, 46, gebürtiger Berliner.

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Zweieinhalb Monate später, am 11. Mai 1973, kommt der Verfassungsschutz zum Ergebnis: „Es muss angenommen werden, dass die Eheleute Guillaume Mitte des Jahres 1956 im Auftrag der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) in die Bundesrepublik Deutschland eingeschleust worden sind.“ Die HVA ist die Spionagetruppe der Stasi. Nach einer längeren verdeckten Beobachtung durch Bonner Sicherheitsbehörden wird Guillaume am 24. April 1974 verhaftet. Kanzler Willy Brandt zieht Konsequenzen aus dem Debakel. Er tritt am 7. Mai zurück.

Für die Politik der DDR, die den Spion in unmittelbarer Nähe Brandts platziert hatte, fühlte sich die Festnahme ihres Agenten mit dem Tarnnamen „Hansen“ und den politischen Folgen in Bonn verheerend an. War Brandt nicht der Vorreiter einer neuen, der DDR entgegenkommenden Ostpolitik? Markus „Mischa“ Wolf, der legendäre Chef der Hauptverwaltung Aufklärung, schrieb mehr als zwei Jahrzehnte später im Vorwort seiner Memoiren reuig auf, wie tief ihn die von ihm mitverantwortete Affäre getroffen hat: Unwissentlich hätten er und seine Leute „geholfen, die Karriere des weitsichtigsten unter den modernen deutschen Staatsmännern, Willy Brandt, zu zerstören“.

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Der Dortmunder im Kanzleramt

Doch war dieses Eingeständnis ehrlich gemeint? Daran darf es Zweifel geben. Noch in den Monaten, bevor Schoregge und Bergmann beim Kaffee Günter Guillaume enttarnen konnten, trieb der bis heute weitgehend unbekannte und hochbrisante Einsatz eines anderen Ost-Spions auf sein Finale zu. Der Dortmunder Willi Rudolf Schelkmann sollte im Auftrag der DDR-Führung einen weiteren zentralen Job im Kanzleramt aufnehmen: Als Redenschreiber Willy Brandts, zuständig für die Außenpolitik.

Schelkmann war ein politisches Chamäleon. Drei Mal in der wechselvollen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts hatte auch er die Ideologie ausgetauscht. Mit 17 meldete er sich 1939 zur SS, zur „Leibstandarte Adolf Hitler“ und zum Reichssicherheitshauptamt, der Schaltzentrale des nationalsozialistischen Terrors. Nach dem Zusammenbruch 1945 blieb er seiner tiefbraunen Gesinnung treu. In Ulm wollte er mit einer Untergrund-Truppe die Herrschaft der Nationalsozialisten neu errichten. Ein amerikanisches Militärgericht schickte ihn 14 Jahre in Haft. Vier davon saß er ab.

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Der perfekte Seitenwechsel

1957 kehrte Willi Rudolf Schelkmann in die alte Heimat zurück – nur um in Dortmund Geschäftsführer des regionalen Büros der HIAG zu werden, der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS“, zuständig für das Ruhrgebiet und Westfalen. Ein immer noch überzeugter Nazi, könnte man meinen. Wäre nicht der abrupte Rauswurf erfolgt. Ende der 50er-Jahre beschuldigte ihn die HIAG-Chefetage finanzieller Unregelmäßigkeiten. Sie verzichtete auf eine Anzeige, aber er musste eine neue Stellung suchen.

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Wendehals Schelkmann bekam den perfekten Seitenwechsel hin. Er bot sich und sein umfangreiches Wissen über den einstigen Terrorapparat der Nazis der Staatssicherheit der DDR an. Die nächste Anstellung fand er bei den Kommunisten. Horst Kopp, sein Stasi-Führungsoffizier, geht in seinem Buch „Der Desinformant“ ausführlich auf den Schützling ein – und berichtet nur Gutes über den Mann aus dem Revier: „Rudi Schelkmann lieferte uns wertvolle Informationen über seine alten Kameraden“. Bald traute ihm die Staatssicherheit mehr zu: Schelkmann sollte den Bonner Regierungsapparat unterwandern und beeinflussen. So schlug der Journalist bei der FDP in NRW auf und startete das Fachzeitungsprojekt „X-Information“, das er in den 60ern ungestört über fünf Jahre betreiben konnte. Stasi-Kopp stolz: „Auf diese Weise vermochten wir, politische Positionen der DDR in Bonner Papieren unterzubringen.“

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Das von Schelkmann herausgegebene Blatt, das alle 14 Tage in einer Auflage von 500 Exemplaren erschien, schien der Linie der linksliberal positionierten NRW-FDP nahe zu stehen und war an der Düsseldorfer Parteibasis beliebt – trommelte es doch für die Idee einer neuen Ostpolitik. „Ich darf absolute Loyalität gegenüber der FDP garantieren“, versicherte er den führenden FDP-Politikern Walter Scheel, Wolfgang Mischnick und Hans-Dietrich Genscher noch am 17. April 1969 in drei gleichlautenden Briefen, die im Archiv des Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stiftung in Gummersbach aufbewahrt werden. Darin schwor er: Nie werde er „eigene politische Ziele in Abweichung von der FDP-Linie“ verfolgen.

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Wechsel der Regierung 1969

Was für ein Fake! Scheel, Mischnick und Genscher saßen einer puren Täuschung auf, initiiert von der HVA-Abteilung X, die für die DDR Desinformation betrieb. Naiv ließen prominente Liberale wie Genscher bei X-Information Interviews abdrucken und buchten Gastkommentare. In Nummer 10/1968 machte das Bundesparteichef Scheel. Schnell baute Schelkmann die gewonnenen Kontakte aus. Bei der Bundestagswahl 1969 kam es zu einer neuen Bundesregierung aus SPD und FDP. Der Spion wurde 1970 – fast zeitgleich mit Guillaume - in den Regierungsapparat katapultiert. Willy Brandt war jetzt Kanzler, Walter Scheel Außenminister, und Willi Rudolf Schelkmann bekam zunächst den Job eines Beraters im Auswärtigen Amt und bald eine höherrangige Position im Bundespresseamt.

Schelkmanns steile Karriere

Aus Dokumenten der Staatssicherheit geht hervor, dass er in den folgenden Jahren seinen DDR-Arbeitgebern als „IM Karstädt“ Geheimberichte mit außenpolitischer Brisanz geliefert hat – über „die Reduzierung von Streitkräften und Rüstungen aus der Sicht westdeutscher Regierungskreise“, auch über Pläne für die Helsinki-Verhandlungen, die eine neue Friedensordnung in Europa schaffen sollten. Das war schon weit mehr als alles, was Günter Guillaume in Ost-Berlin abliefern konnte.

Stasiakten-Forscher Hubertus Knabe berichtete 2001, Schelkmann sei „Einflussagent“ gewesen, aber nicht nur. Er habe auch Personal-Reports über die beiden späteren Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU) und Gerhard Rudolf Baum (FDP) verfasst, mit denen er wohl in Kontakt stand.

Treuherzig planten die Sozialliberalen die nächste Beförderung für den schnell aufsteigenden Dortmunder. Im Herbst 1972 wollten sie ihn zum außenpolitischen Redenschreiber des Kanzlers machen. Wäre er das geworden und wäre sein Stasi-Auftrag aufgeflogen: Der Skandal und mögliche Schlagzeilen wie „Stasi schreibt Brandts Reden“ hätten die Bedeutung der Affäre um den Kanzlerspion Guillaume womöglich in den Schatten gestellt.

SS-Vergangenheit wird Stolperstein

Doch irgendwie funktionierten „Notbremsen“ des Bonner Systems. Unmittelbar nach dem Wechsel ins Kanzleramt muss eine erste Sicherheitsprüfung abschreckende Ergebnisse gebracht haben. So haben es die „Spiegel“-Buchautoren Georg Bönisch und Sven Röbel 2021 aufgeschrieben. Unklar bleibt, was genau passiert ist. Denn nicht etwa seine Stasi-Tätigkeit wurde aufgedeckt. Die war zu gut geschützt. Gefunden haben die Bonner vielmehr alles über seine ein Vierteljahrhundert zurückliegende Mitgliedschaft in der SS und die Arbeit bei der HIAG in Dortmund, die er verschwiegen hatte. Eine SS-Vergangenheit und Arbeit für den Antifaschisten Brandt passten nicht zusammen, soll Brandts Sprecher Conrad Ahlers befunden haben. Mit hoher Abfindung, 30.000 D-Mark, durfte er den westdeutschen Staatsdienst verlassen. Die Stasi-Chefetage beorderte „IM Karstädt“ samt Familie 1975 in die DDR. Fortan wohnte er bei Berlin und schrieb dort Analysen und Personaldossiers – aus Ost-Sicht.

So lieferte er auch sein vielleicht folgenreichstes Papier ab. 1976, zeitgleich zu den Vorbereitungen der westdeutschen Terrorbande Rote Armee Fraktion (RAF) für ihre „Offensive 77“, erhielt er den Auftrag, in einem Bericht über die Nazi-Vergangenheit Hanns-Martin Schleyers dessen SS- und NSDAP-Mitgliedschaft wissenschaftlich lückenlos nachzuweisen. Sein Text geriet auf dem Umweg in die Hände der RAF und wurde zur ideologischen Rechtfertigung der Terroristen, den Arbeitgeberchef im September 1977 in Köln zu kidnappen und zu töten. Ob Schelkmann vom Endverbleib seiner Arbeit bei den Mördern Schleyers vorab gewusst oder es zu zumindest geahnt hat? Das ist bis heute ein Geheimnis.

Nach der Einheit flog er auf

Für wen Willi Rudolf Schelkmann wirklich arbeitete, flog erst nach der Einheit auf. Der Dortmunder Nazi, Stasi-Agent, vermeintliche Liberale und vielleicht unfreiwillige Terror-Unterstützer Willi Rudolf Schelkmann starb 1992. Günter Guillaume und seine Ehefrau, beide wegen Spionage verurteilt, kamen schon 1981 vorzeitig frei und gingen in die DDR zurück. Der Kanzlerspion starb 1995 in Petershagen bei Berlin.

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