Vilnius. Der NRW-Ministerpräsident reist nach Litauen zu Bundeswehr-Soldaten an der Nato-Ostflanke. Ein Oberst schärft ihm den wichtigsten Auftrag ein.
Achtung! Der Ministerpräsident fahre „über Luke“, kündigt der Presseoffizier an. Da biegt Hendrik Wüst auch schon um die Ecke und schaut aus dem Dach eines Fuchs-Transportpanzers. Er trägt einen Flecktarnparka, den ihm Oberst Klaus-Peter Berger geliehen hat.
Nun soll er drei Dutzend deutsche Soldaten begrüßen, die sich an der NATO-Ostflanke in Litauen vor Kriegsgerät aufgereiht haben. Sie stehen in ihren Knobelbechern im Morast, Wüst trägt die guten braunen Wildlederschuhe. „Oh, das tut mir leid“, sagt der Oberst. „Egal, macht nichts“, sagt Wüst und tänzelt entschlossen durch die Matsche zu den Uniformierten.
Eine Reise, die man so oder so sehen kann
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident hat mal wieder eine Reise unternommen, die man so oder so lesen kann. Er ist für drei Tage nach Litauen geflogen. Offiziell geht es um einen Empfang zur Erinnerung an den Tag der deutschen Einheit in Vilnius. Außerdem will er den 71 von rund 800 deutschen Streitkräften in der NATO-Beistandsinitiative überfälligen Respekt zollen. „Hier wird gemeinsam auch unsere Sicherheit verteidigt“, lobt Wüst. Wer wollte dagegen etwas sagen?
Lesen Sie auch:
- Wüsts Foto-Kosten und die "nordkoreanische Einheitsfrisur"
- Konzeptarbeit statt K-Frage: Wie Merz jetzt mit Wüst umgeht
- Hendrik Wüst: Ein Mann für jede Tonart
Zugleich steht ein solcher Trip bei jemandem, dem Ambitionen auf die Kanzlerkandidatur 2025 nachgesagt werden, immer auch im Verdacht des außen- und sicherheitspolitischen Trainingslagers. Wüst hat sich schon oft als „lernendes System“ erwiesen und scheint auch hier im Schnelldurchlauf Wissens- und Erfahrungslücken zu schließen.
„Man will hier nie wieder den Russen in Litauen haben“
Der 48-jährige CDU-Politiker saugt förmlich auf, dass in Litauen noch einmal eine ganz andere Solidarität mit der Ukraine gelebt wird als in Deutschland. Was er hört, tippt er in sein IPad. Überall in der Altstadt von Vilnius prangen blau-gelbe Fahnen. Die Bundeswehr hat hier einen guten Ruf, was nicht selbstverständlich ist in einem Land, in dem vor 80 Jahren in deutschem Namen Hunderttausende exekutiert wurden. Die NATO-Präsenz wird als Lebensversicherung gesehen. Im Westen droht die russische Exklave Kaliningrad, im Osten Belarus. „Man will hier nie wieder den Russen in Litauen haben“, erklärt der Oberst. Er sagt wirklich „den“ Russen.
Wüst legt einen Kranz mit NRW-Banner an der nationalen Gedenkstätte für den litauischen Kampf um Unabhängigkeit auf dem Friedhof in Antakalnis nieder, etwas außerhalb von Vilnius. Hier ruhen die Opfer des Januar-Putsches von 1991, als die Sowjetmacht zum vorerst letzen Mal versuchte, ihren Einfluss wiederherzustellen. Ende 2022 wurde auf diesem Friedhof ein Sowjetdenkmal aus Protest gegen den Überfall auf die Ukraine abgerissen.
Wüst muss einräumen, dass Deutschland die Gefahr nicht sehen wollte
Bei einem halbstündigen Treffen mit Premierministerin Ingrida Šimonytė wird Wüst schmerzlich in Erinnerung gerufen, dass auch seine CDU über Jahre Warnungen vor einer gefährlichen Energieabhängigkeit ignoriert hat. „Ihr hattet Recht, wir lagen falsch“, räumt er immer wieder bei dieser Reise ein. Später betont er immerhin den Wert des heutigen deutschen Gas-Embargos. Es sei „eine Riesencharakterleistung des deutschen Volkes, dass wir mit unserem Energiehunger nicht den Krieg finanzieren wollen“, findet Wüst.
Auch wenn dem NRW-Ministerpräsidenten die Flecktarnjacke außerordentlich gut steht, kann er im NATO-Stützpunkt Rukla bisweilen nicht verbergen, dass das noch nicht ganz seine Welt ist. Wie auch? Er ist einst ausgemustert worden, war immer Landespolitiker und hat den letzten Appell miterlebt, als vor 20 Jahren in seinem Wahlkreis in Borken eine Kaserne zugemacht wurde. Wüst fragt nach Anreizen für Soldaten, um nach Litauen zu gehen. Nach „Incentives“, wie er es nennt. Der Oberst verzieht keine Miene und antwortet: „Die Truppe wird zusammengestellt und hierher befohlen. Das ist relativ einfach.“
Zackig fragt Wüst die in der Matsche stehenden Soldaten: „Gefällt es Ihnen hier?“ Er erntet gesenkte Blicke und Gemurmel. „Kann man hier auch mal ganz gut ein Bierchen trinken?“, will er noch wissen. Ein Soldat antwortet: „Hier ist 24/7 für uns 0,0, wir sind immer im Einsatz.“ Doch gemessen an unzähligen peinlichen Politiker-Smalltalk-Situationen, auf die man so zurückblickt, schlägt sich Wüst sehr achtbar.
Mit solchen Reisen gewinnt Wüst an außenpolitischer Flughöhe
Vor allem erreicht er mit dieser Baltikum-Tour erneut, sich auf außenpolitische Flughöhe zu begeben. Das schwarz-grüne Kleinklein in NRW ist für einen Moment weit weg. Wüst schläft in Vilnius in einem schmucken Altstadt-Hotel, das auch schon Angela Merkel und Georg W. Bush bewohnt haben. Er sagt Sätze wie: „Es war ein Fehler, sich so wenig mit Fragen der Verteidigungsfähigkeit und der Resilienz zu befassen.“ Oder: Er sei Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) dankbar, dass der dauerhaft eine Brigade (4000 Bundeswehr-Soldaten) in Litauen stationieren wolle. Und auch dem Kanzler zollt er Dank für den „Zeitenwende“- Begriff. „Warum sollte ich den Kanzler nicht loben dafür?“, fragt Wüst kokett.
So gehört nicht viel Fantasie dazu, sich den Düsseldorfer Regierungschef in der nächsten Runde der Kanzlerkandidaten-Diskussion der Union vorzustellen. Während er sich nahezu fehlerfrei als Staatsmann bewegt, verkauft sich gerade ein „Stern“-Cover, das seinen Parteichef Friedrich Merz mit reinretuschierter Frontzahnlücke zeigt. Wo soll das noch hinführen? Am Sonntag sind ja auch noch Landtagswahlen in Bayern und Hessen. Wüst, der am Dienstag in Hamburg kurz vor Abflug nach Vilnius bei den Einheitsfeierlichkeiten zum Ballermann-Song „Helikopter 117“ auf der Tanzfläche gesichtet wurde, scheint immer besser startklar zu werden.
Manchmal dürfte er gleichwohl spüren, dass zusätzliche politische Verantwortung auch schwer wiegen kann. So schärft ihm der Oberst Berger irgendwann als „Aufgabe der Politik“ ein, den Deutschen zuhause das Bedrohungsgefühl in Osteuropa zu vermitteln und den Bürgern klar zumachen, dass Deutschland selbst mal Frontstaat gewesen sei und vom Schutz anderer gelebt habe und nun etwas zurückgeben müsse.
„Ich habe Ihren Auftrag verstanden“, sagt Wüst. Er bleibt dabei aber sitzen.