Essen. Der Club of Rome zeigte vor 50 Jahren der Welt „Die Grenzen des Wachstums“ auf. In vielem lag er richtig. Warum die Systemfrage tabu bleibt.
Was, wenn alle in die falsche Richtung laufen, gemeinsam Richtung Abgrund. Selbst die, die darum wissen. Weil sie nicht allein zurückbleiben möchten. Und weil der Abgrund noch weit weg ist, also die Hoffnung lebt, noch rechtzeitig umkehren zu können. Nein, das ist nicht die Theorie von den Lemmingen. Ihr Hang zum Massenfreitod ist nur eine Legende. Es ist die 50 Jahre alte Theorie des Club of Rome. Die Neigung zur kollektiven Selbstzerstörung schrieb seinerzeit ein Team aus Wissenschaftlern dem Menschen zu. Ihre Analyse, die Welt steuere in die Katastrophe, wenn sie so weiter wirtschafte, erweist sich angesichts der Klimakrise und ihrer sozialen und ökonomischen Verwerfungen mit jedem Jahr als zutreffender. Doch was folgt daraus?
Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung oder Enkelfähigkeit sind anders als vor 50 Jahren längst Standardbegriffe im gesellschaftlichen Diskurs. Nur schlagen sie sich offenkundig noch nicht entscheidend im Regierungshandeln der 201 Staaten dieser Erde nieder. Und sehr bald, so die Befürchtung, könnte es dafür zu spät sein, könnten „Die Grenzen des Wachstums“, so das Standardwerk des Club of Rome, erreicht sein.
Nachhaltigkeitsforscherin: Lützerath lenkt nur von größeren Problemen ab
In Lützerath haben Tausende gegen die Kohlepolitik der Bundesregierung und gegen den Energiekonzern RWE protestiert. Hinter ihrem Festgeklebe und -gekette steckt aber ein Konflikt, der viel tiefer geht als jede Braunkohlegrube: Der zwischen einer auf Wachstum fußenden Weltwirtschaft und der Schonung unseres Planeten. Doch wer die Systemfrage stellt, schafft es selten in die Tagesschau.
„Reine Symbolhandlungen“ sieht denn auch die Nachhaltigkeitsforscherin Estelle Herlyn in den Lützerath-Protesten. „Das lenkt von den eigentlichen, viel größeren Problemen nur ab. Und wenn wir die nicht endlich angehen, wird es schwierig, den Klimawandel noch auf ein erträgliches Maß einzudämmen“, sagt die Professorin an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management in Düsseldorf. Allerdings gebe Deutschland mit seiner aktuellen Klimapolitik gerade in der Tat nicht das Vorbild ab, das es immer sein wolle.
Der grüne Klimaminister Robert Habeck lässt das Kohlecomeback zu, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Dass man nicht zulassen dürfe, Industrien abzuklemmen, um die Stromversorgung zu sichern, ist parteiübergreifender Konsens in Deutschland sowie im Rest Europas und der Welt. Für die Marktwirtschaft ist Stillstand der Tod. „Warum eigentlich?“, fragen nur wenige. Warum können wir nicht runterfahren, wenn nur das den Klimawandel aufhält?
Die Systemfrage überfordert einzelne Länder
Die Antwort kann kein einzelnes Land geben, zu sehr ist jedes mit den anderen verwoben. Wer will schon das einzige Wirtschaftssystem infrage stellen, das sich rund um den Globus etabliert hat, ohne ein besseres zu kennen? Für derlei Ratlosigkeit und Ohmacht sieht der Schutzmechanismus menschlicher Psyche nur eine Sendepause oder einen raschen Themenwechsel vor.
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Die Weltwirtschaft ist eine kapitalistische – längst unabhängig davon, ob das politische System ein demokratisches, autokratisches, kommunistisches oder eine Diktatur ist. Das bedingt auch, dass zurückbleibt, wer ausschert und für sich Nachhaltigkeit vor Wachstum stellt. Wer das tut, vernichtet den Wohlstand seiner Bürgerinnen und Bürger – und wird in einer Demokratie alsbald abgewählt. Im globalen Wettbewerb geht es darum, wer am stärksten wächst. Nicht zu wachsen, ist keine Option – auch das eine Folge der Globalisierung.
Bevölkerungswachstum bedingt Wirtschaftswachstum
Eben weil er das wusste, hat sich der Club of Rome den Folgen dieser Wachstumslogik gewidmet. Seine Hauptthese, die Menschheit verbrauche mit ihrem ungebremsten, sich gegenseitig beschleunigenden Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum binnen Jahrzehnten die wichtigsten Ressourcen ihres Planeten, haben die 17 Wissenschaftler seinerzeit nicht beim gemeinsamen Blick in die Glaskugel aufgestellt. Sondern mit Rechenmodellen, die Wechselwirkungen zwischen den fünf globalen Entwicklungen Bevölkerungswachstum, Industrialisierung, fossile Reserven, Unterernährung und Umweltschäden hochskalierten. In damals noch ziemlich großen Computern.
Wie es sich für gute Prognosen gehört, wurden viele Szenarien durchgespielt, die unterschiedlich dramatische Ergebnisse zeitigten. Aber alle unter einem Nenner blieben: Macht die Menschheit weiter wie bisher, läuft sie sehenden Auges in eine Katastrophe aus sozialen Verwerfungen, Umweltzerstörung und nach dem unweigerlichen Ende des Wachstumspfades auch der Deindustrialisierung. Die Szenarien variieren nur zwischen früher oder später.
Die Volkswagen-Stiftung finanzierte „Grenzen des Wachstums“
Die Studie unter Führung des US-Ökonomen Dennis Meadows basiert auf Mathematik. Finanziert hat sie auch nicht irgendein reicher Hippie, sondern die Volkswagen-Stiftung. Doch die meisten Ökonomen kritisierten das Werk seinerzeit scharf als düstere Untergangsphantasie. Ungewöhnlicherweise argumentierten sie mit weichen Faktoren wie der Lernfähigkeit des Menschen, die in der Rechnung nicht bedacht worden seien. 50 Jahre später wird dieses Argument nicht mehr so oft benutzt.
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Den Club of Rome gibt es noch heute. Die zweimal überarbeiteten „Grenzen des Wachstums“ sind eine Mahnung zum Umsteuern, heute mehr denn je. Doch genau dazu neigen für wenige Jahre gewählte Regierungen in Demokratien selten und Autokratien per se nicht. „Ist Nachhaltigkeit utopisch?“ fragte deshalb der Club in ihrem jüngsten Werk 2020. Und benannte Systemträgheit, Politikversagen und falsche Marktanreize als größte Hürden.
Die Lösungsvorschläge sind die alten: Abschied vom Wachstumsautomatismus, Übergang in eine nachhaltige, rohstoffschonende Wirtschaft, qualitativer statt quantitativer Konsum, und natürlich der Ausstieg aus fossiler Energieerzeugung. Der ist inzwischen zwar in einigen Ländern eingeleitet, geht aber zu langsam voran, während vor allem Entwicklungs- und Schwellenländer erst noch neue Kohlekraftwerke bauen.
Warum der Norden dem globalen Süden helfen muss
Die weltweite Verteilungsfrage hält Estelle Herlyn, Mitglied in der Deutschen Gesellschaft des Club of Rome, für entscheidend. Den Entwicklungsländern gesteht auch das Pariser Klimaabkommen weiteres Wachstum zu, einfach weil viele Länder vor allem in Afrika und Asien noch sehr rückständig sind und entsprechend aufholen müssen, um ihre wachsende Bevölkerung versorgen zu können. „Wir müssen dem globalen Süden dabei helfen, dass sein Wachstum so wenig zusätzliches CO wie möglich produziert“, sagt sie. Technologisch, aber auch mit viel Geld. Das kann nicht nur vom Staat kommen. „Viele Menschen fragen sich ja, was sie selbst für den Klimaschutz tun können. Am wirkungsvollsten ist es, neben den heimischen Anstrengungen Klimaprojekte in Entwicklungsländern finanziell zu unterstützen, die zugleich die wirtschaftliche Entwicklung fördern“, so Herlyn.
Viele Menschen fangen hierzulande bei sich an, schränken ihren Konsum ein, üben Verzicht. Sie teilen sich Autos, tauschen Kleidung, gehen mit ihrem kaputten Radiowecker in ein Reparaturcafé statt sich für 15 Euro einen neuen zu kaufen. Ob Energie, Mobilität, Mode, Kosmetik oder Ernährung – in so ziemlich allen Wirtschaftsbereichen verzeichnen Industrie und Handel ein stetig wachsendes Interesse an nachhaltigen, ökologischen, klimaschonenden und Sozialstandards erfüllenden Produkten.
Die Unternehmen folgen der Nachfrage, darin liegt eine Chance
Die Verbrauchermacht ist nicht zu unterschätzen: Dass Unternehmen bereit sind, radikal umzusteuern, wenn sich die Nachfrage über Nacht ändert, zeigt ausgerechnet die Autoindustrie. Investitionen fließen fast nur noch in Elektroantriebe, bei Lkw zudem in Wasserstoffmodelle. Eine neue Art des Wirtschaftens setzt sich im Kapitalismus immer dann durch, wenn es den Herstellern die besten Gewinnaussichten verspricht. Deswegen könnte auch die Energiewende längst ein Selbstläufer sein: RWE muss niemand mehr überzeugen, auf Grünstrom zu setzen, der Dax-Konzern verdient längst den größten Teil seines Geldes damit.
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Bei der Energie ist es inzwischen eher Staatsversagen, das eine schnellere Wende bremst – vor allem durch lange Genehmigungsverfahren. Aber natürlich bräuchte es zunächst auch finanzielle Anreize, um RWE und Co. Beine zu machen. Das müsste Politik in vielen Bereichen tun, meint der Club of Rome. Natürlich kann und darf er den Konsum in bestimmte Richtungen lenken. Will das jemand wie gerade Agrarminister Cem Özdemir mit der Mehrwertsteuerbefreiung von Obst und Gemüse, hat er aber sogleich die jeweilige Lobby am Hals – in diesem Fall den Bauernverband, der die Schweinezüchter benachteiligt sieht.
Politik muss Einfluss nehmen und Verbrauch lenken
Politik kann und muss Einfluss nehmen, etwa darauf, wertvolle Rohstoffe wiederzuverwerten. Die Profitoptimierung hat viele Blüten getrieben, etwa dass Elektrogeräte nicht zu lange halten und die Reparatur teurer ist als der Neukauf. Oder dass rohstoffreicher, aber für Menschen gefährlicher Schrott immer noch auf irgendwelchen Halden in Entwicklungsländern landet, wo Kinder ihn mit bloßen Händen auflesen. Weil es sich meist nicht rechnet, aus Altem Neues zu machen – weil das Recycling zu aufwendig und teuer und das neue Silizium aus China noch immer zu billig ist.
Mit die größte Hürde auf dem Weg in eine Industrie, die weder das Klima killt noch die Erde ihrer letzten fossilen Schätze beraubt, ist der Umgang mit den nicht nachwachsenden Rohstoffen. Denn sind die letzten seltenen Erden verbaut, gibt es keine neuen Handys mehr und keine Solaranlagen. In der Stahlindustrie können die Brennstoffe noch so grün werden – ohne Erz kein Stahl, ohne Stahl kein Windrad – undsoweiter.
Kreislaufwirtschaft als Schlüssel für nachhaltiges Wachstum
Einziger Ausweg ist eine Kreislaufwirtschaft, die alle eingesetzten Rohstoffe sammelt und aufbereitet. Noch gibt es sie erst in Ansätzen. Politik könnte mit Prämien und Steuern auch darauf Einfluss nehmen. Ökonomin Herlyn betont die Chancen: „Mit einer funktionierenden fossilen Kreislaufwirtschaft, bei der das CO nicht in die Atmosphäre gelangt, würden dem Wachstum weniger Grenzen gesetzt.“
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Doch auch hier gilt: Schert ein Land aus der Logik aus, dass die günstigste und nicht die nachhaltigste Produktionsweise sich durchsetzt, fällt es international zurück. Das ließe sich nur in weltweiten Kooperationen von Politik und Wirtschaft ändern, weiß Herlyn. Man müsse sich auf gemeinsame Regeln verständigen, zum Beispiel, dass wertvolle Rohstoffe nicht im Müll landen dürfen, sondern wiederverwertet werden müssen, um die Ressourcen zu schonen.
Weltweiter Wachstumsverzicht ist nicht realistisch
Die Wirtschaftmathematikerin ist übrigens nicht wie manche Kollegen der Meinung, der weltweite Verzicht auf Wachstum sei die Lösung. Sie sagt zwar entschieden: „Wir müssen aufhören, es so zu machen wie bisher. Diese Rechnung geht nicht auf.“ Aber ein genereller weltweiter Wachstumsverzicht sei zum einen illusorisch, weil es keine Institution gebe, die derlei beschließen geschweige denn durchsetzen könnte. Und allein schon für den Aufholprozess des Südens sei weiteres Wachstum nötig. Das Ziel für den Norden müsse es sein, zu einem nachhaltigen Wirtschaften zu finden.
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Dafür brauche es zuallererst saubere Energie in riesigen Mengen. Für die Energiewende und die Umstellung der Industrie auf eine klimaneutrale Produktion wünscht sich Herlyn mehr Technologieoffenheit in Deutschland. Der norwegische Weg etwa, auch blauen, also noch mit Erdgas erzeugten Wasserstoff zu nutzen und das CO2 in vorhandene, leere Gasfelder zu pressen, sei schneller und wesentlich günstiger als der Komplettumstieg auf Ökostrom.
„Es ist nicht unmöglich, es noch hinzubekommen“
Herlyn ist es wichtig zu betonen, dass es im Club of Rome nicht um die Verkündung der Apokalypse geht, sondern um lösungsorientierte Vorschläge. Sie selbst bleibt Optimistin: „Es ist nicht grundsätzlich unmöglich, es noch hinzubekommen.“
Die Alternative zum von ihr bevorzugten nachhaltigen Wachstum ist eine Postwachstumsökonomie, in der alle weniger konsumieren, aber auch weniger arbeiten. Mit dem bereits mehrfach erwähnten Haken, dass dies in einer Welt mit so ungleich verteiltem Wohlstand viele Länder nicht mitgehen können und nationale Alleingänge Abstieg bedeuten, nach dem der Druck wachsen zu müssen, rasch wiederkehrt.
Eines von beidem muss dem heutigen Wirtschaftsmodell folgen, wenn der Club of Rome recht hat. Doch weitere 50 Jahre haben die Regierungen nicht Zeit, mit dem Umsteuern anzufangen. Seine 1972 von den Kritikern angeführte Lernfähigkeit muss der Mensch bald beweisen. Denn das gemeinsame Ziel, die Erderwärmung unter 1,5 Grad zu halten, droht die Weltgemeinschaft noch in diesem Jahrzehnt zu reißen.
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