Essen. Einstieg, Ausstieg. Wiedereinstieg, Wiederausstieg. Und nun? Die Geschichte der Kernkraft in Deutschland ist kein Ruhmesblatt für die Politik.
Man konnte es blumig-schwärmerisch ausdrücken, so wie der Philosoph Ernst Bloch 1957: „Wie die Kettenreaktionen auf der Sonne uns Wärme, Licht und Leben bringen, so schafft die Atomenergie aus Wüste Fruchtland, aus Eis Frühling. Einige hundert Pfund Uranium und Thorium werden ausreichen, um die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen, Sibirien und Nordamerika, Grönland und die Antarktis zur Riviera zu verwandeln.“
Andere wählten eine eher handfest-ökonomische Formulierung, wie der erste deutsche Minister für Atomfragen, Franz Josef Strauß (CSU), der etwa im gleichen Jahr wie Bloch erklärte: „Eine Nation, die auf dem Gebiet der Wissenschaft und Atomwirtschaft nicht Gleichstand und Konkurrenzfähigkeit mit den übrigen Völkern aufweisen kann, wird allmählich einem Prozess der Deklassierung unterliegen.“
Für Bloch wie Strauß stand damals fest: Die Atomkraft war die Antwort auf nahezu alle Energieprobleme der Zukunft.
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Zwar war der Begriff vom Klimawandel noch nicht geprägt und es existierte in der noch jungen Bundesrepublik keine echte Umweltschutzbewegung – doch dem einen oder anderen schwante dunkel, dass Kohle und Öl nicht ewig die Grundlage für den täglich wachsenden Energiebedarf von Industrie und Privathaushalten würden decken können. Da kam die Vision von der „sauberen Kernkraft“ gerade recht. „Es war ja gesellschaftlich überhaupt nicht umstritten, gesellschaftlich war das von links bis rechts als der Fortschritt besetzt“, erinnerte sich einmal der zum Atomgegner gewandelte Ex-Atommanager Klaus Traube. Kernenergie stand in den 50er-Jahren für Zukunft, Wohlstand, Wirtschaftskraft.
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Atom-Euphorie auch in der DDR
Und das nicht nur in der Bundesrepublik, auch die DDR hatte große Atom-Träume. Ein Abkommen mit der Sowjetunion 1955 machte den Weg frei für ein eigenes Atomenergie-Programm der DDR, an dessen Beginn der Bau eines Forschungsreaktors im „Zentralinstitut für Kernphysik“ in Rossendorf nahe Dresden stand. Am 16. Dezember 1957 wurde die Anlage in Anwesenheit hoher SED-Politprominenz eingeweiht. Die Stimmung war bestens; auch, weil man die BRD ein bisschen abgehängt hatte: Der erste bundesdeutsche Atomreaktor in Garching bei München befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in der Erprobungsphase.
Doch auch im Westen ging es voran. Ab 1961 lieferte das Kernkraftwerk Kahl am Main 15 Megawatt Strom ins Netz ein. 1966 folgte der Meiler von Gundremmingen, der schon 250 Megawatt lieferte und 1973 waren in der Bundesrepublik schon fünf Atomkraftwerke in Betrieb, für weitere elf Anlagen liefen die Bauanträge. Im gleichen Jahr verabschiedete der Bundestag in Bonn ein ehrgeiziges Atomprogramm, das den Ausbau der Kernenergie auf eine Gesamtkapazität von bis zu 50.000 Megawatt bis Mitte der 80er-Jahre in Aussicht stellte. Ein „gesicherter Rahmen für die Entwicklung der Kernenergie“ wie Bundeskanzler Willy Brandt im Parlament stolz verkündete. Die Ölkrise von 1973 mit ersten politisch verordneten Fahrverboten und Tempolimits war ein Schock für die Republik – man setzte weiter auf Kernkraft.
In der DDR hinkte der Ausbau der Atomenergie inzwischen hinterher. 1966 ging das erste Kernkraftwerk in Rheinsberg bei Potsdam ans Netz, sieben Jahre danach der Meiler in Greifswald. Der Plan der SED: An die 20 Kernkraft sollten bis 1970 ans Netz gehen. Motto: „Blühende Zukunft – Kernenergie“. Die Euphorie für die neue Technik war auch in der DDR ungebrochen.
In der Bundesrepublik dagegen formierte sich in den 70er-Jahren immer stärker eine Anti-Atom-Bewegung. Der gelbe Sonnensticker mit der Aufschrift „Atomkraft – Nein, danke“ wurde zum Markenzeichen der Kernkraft-Gegner. Immer mehr rückten die potenziellen Gefahren der Kernkraft-Technik in den Fokus der gesellschaftlichen Debatte. Die höchst emotional geführte Auseinandersetzung zwischen den Atomgegnern und der Bundesregierung entlud sich in teils gewalttätigen Großdemonstrationen, etwa an den AKW-Baustellen von Brokdorf und Kalkar oder in Gorleben, wo ein Endlager für Atommüll geplant war. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) erklärte trotzig: „Im Jahre 2010 werden wir kein Öl mehr haben. Dann werden alle Autos mit Batterien fahren. Dazu brauchen wir Atomkraftwerke, damit wir die Batterien aus der Steckdose aufladen können.“ Endgültig aber kippte die Stimmung nach dem Unglück im Reaktor Three Mile Island in Harrisburg/USA 1979 und vor allem nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986, nach der eine radioaktive Wolke über weite Teile Europas zog.
Der erste Ausstieg 1998
Was folgen sollte, war ein in der Politik beispielloses politisches Gezerre. Zunächst, 1998, erfolgte der (erste) politische Ausstieg aus der Kernenergie. Die frisch ins Amt gewählte rot-grüne Bundesregierung erreichte nach zähen Verhandlungen mit der Industrie den sogenannten Atom-Konsens: Bis etwa 2020 sollten alle Kernkraftwerke vom Netz gehen. Vor allem die Grünen, deren Wurzeln in der Anti-AKW-Bewegung liegen, jubelten. Gleichwohl blieb die Frage nach der Zukunft der Kernenergie in der Bundesrepublik umstritten.
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Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass im Osten der Republik die Ära der Atomenergie mit der deutschen Einheit 1990 zu Ende gegangen war. In Arneburg bei Stendal hatte das größte AKW der DDR entstehen sollen: vier Reaktoren mit je tausend Megawatt Leistung. Doch die Wende knipste dem Projekt die Lichter aus.
Der „Ausstieg“ hielt bis zur Wahl 2009. Im Bund regierte danach die Union mit der FDP. Die Koalitionäre schrieben in ihrem Vertrag: „Die Kernenergie ist eine Brückentechnologie, bis sie durch erneuerbare Energien verlässlich ersetzt werden kann. Dazu sind wir bereit, die Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke unter Einhaltung der strengen deutschen und internationalen Sicherheitsstandards zu verlängern.“ Es war der Ausstieg aus dem Ausstieg. Doch auch der hielt nicht lange.
Merkels Kehrtwende nach Fukushima
Als am 11. März 2011 vor der japanischen Küste die Erde bebte und ein Tsunami auch über das Kernkraftwerk von Fukushima hinweg rollte, kam es dort zum GAU. Die Kühlung der Reaktoren fiel aus, es kam zur Kernschmelze, große Mengen radioaktiver Stoffe wurden freigesetzt. Der Mythos von der „sicheren Kernkraft“ war endgültig dahin. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die nicht einmal zwei Jahre zuvor die Laufzeiten der deutschen Meiler verlängert hatte, legte unter dem Eindruck von Fukushima eine Kehrtwende hin. Vor dem Bundestag sagte sie: „Die dramatischen Ereignisse in Japan sind ein Einschnitt für die Welt, auch für mich ganz persönlich. (…) Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert.“ Bis zum Jahr 2022 werde „die Nutzung der Kernenergie in Deutschland beendet“.
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Und heute? Gas und Öl aus Russland sind durch Ukraine-Krieg und Sanktionen gegen Kreml-Herrscher Putin auf unabsehbare Zeit keine verlässlichen Quellen mehr. Kohle ist Klimakiller Nummer eins. Wind- und Sonnenenergie sind noch längst nicht soweit, die Lücken zu füllen. Da dauerte es nicht lange, bis zu ersten Forderungen nach einer längeren Laufzeit der verbliebenen drei deutschen Kernkraftwerke, die eigentlich Ende 2022 vom Netz gehen sollen. Die Union ist dafür, die FDP sowieso, bei der SPD weiß man mal wieder nicht so recht. Und die Grünen, bei denen der Anti-Atom-Protest Teil der politischen DNA ist? Einige in der Parteispitze können sich zumindest einen „Streckbetrieb“ mit den vorhandenen Brennelementen noch laufender Atomkraftwerke vorstellen. Streckbetrieb. Wo eine klare Haltung fehlt, müssen neue Vokabeln her.
Angesichts dieser unübersichtlichen politischen Gemengelage ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es auf eine Entscheidung hinausläuft, die vor allem eines ist: gesichtswahrend für möglichst alle Beteiligten in der rot-grün-gelben Ampel-Regierung. Ein entschlossenes Sowohl-als-auch.
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