Washington/Sanford. . George Zimmerman erschoss den schwarzen Teenager Trayvon Martin. Für die Staatsanwaltschaft war dies mindestens Totschlag. Die Vereidigung setzte auf Notwehr – und setzte sich durch. Das Urteil spaltet die amerikanische Gesellschaft

„Not guilty“. Nicht schuldig. Zwei Wörter sorgen seit Samstagabend, 22 Uhr, in Amerika wahlweise für Fassungslosigkeit und Empörung. Oder für Aufatmen und Genugtuung. Nach dreiwöchigem, Tag für Tag auf mehreren Fernsehkanälen live übertragenen Prozess haben die Geschworenen in Florida den 29-jährigen weißen Latino George Zimmerman einstimmig von dem Vorwurf freigesprochen, während einer Patrouille als Nachbarschaftswächter in einem Vorort von Orlando den unbewaffneten 17-jährigen Schwarzen Trayvon Martin ermordet oder totgeschlagen zu haben. Die sechs weißen, ausnahmslos weiblichen Jury-Mitglieder verwarfen damit auf ganzer Breite die Anklage und folgten der Linie der Verteidigung. Sie hatte Zimmermans tödlichen Pistolenschuss auf Martin bis zuletzt als reine Notwehr dargestellt.

In der Dunkelheit „verdächtig“

Der Teenager war am 26. Februar 2012 von Zimmerman in einer eingezäunten Wohnanlage in Sandford erschossen worden, nachdem er diesem in der Dunkelheit „wirklich verdächtig“ erschien. Martin war auf Besuch bei der dort ansässigen Freundin seines Vaters und kam abends bei Nieselregen zu Fuß durch das Wohngebiet, nachdem er an einer Tankstelle Bonbons und Eistee gekauft hatte. Mit seinem in die Stirn gezogenen Kapuzen-Pulli löste der schlaksige Schwarze bei dem selbsternannten Bürgerwächter George Zimmerman Reflexe aus: Der führt was im Schilde. Zimmerman rief die Polizei-Notrufnummer 911 an und schlug Alarm. Er war dort für seine übereifrigen Anrufe seit langem bekannt. Obwohl ihn der diensthabende Beamte am Telefon aufforderte, nichts zu unternehmen und auf die nächste Streife zu warten, verfolgte Zimmerman den Jungen in seinem Auto.

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Zehn Minuten nach dem Polizeianruf war Trayvon Martin tot. Eine Kugel aus der lizensierten Waffe Zimmermans hatte ihn nach einer bis heute nicht zweifelsfrei geklärten Konfrontation in die Brust getroffen. Zimmerman sagte bis zum Schluss, er habe aus Notwehr gehandelt. Trayvon Martin habe ihn attackiert und mehrfach mit dem Kopf auf den Asphalt geschlagen.

Im Prozess mühten sich die Staatsanwälte um Bernie de la Ronda den Nachweis zu führen, dass Zimmerman es aus niedrigen Beweggründen auf Martin abgesehen habe. Die Gegenseite um die Verteidiger Don West und Mark O‘Mara hielt dagegen und zerstörte jeden Verdacht, dass ihr Mandant absichtsvoll gehandelt haben könnte. Wie ein Mantra wiederholten sie: Wenn nur der leiseste „vernünftige Zweifel“ besteht, müsse Zimmerman freigesprochen werden.

Handelte die Staatsanwaltschaft ungeschickt?

Vor allem die letzten Minuten im Leben von Trayvon Martin blieben bis zuletzt strittig. Hatte er Zimmerman angegriffen, aus Verdruss über dessen Beschattung? Oder war Zimmerman die treibende Kraft, die es auf eine Rangelei angelegt hatte, um zur Not die Waffe zu ziehen und zu schießen? Niemand war dabei. Die Szene, als die Mütter von Martin und Zimmerman eine schreiende Stimme identifizieren sollten, die bei einem Hilferuf am Telefon aufgezeichnet worden waren, illustrierte das Dilemma für die Jury: Beide Frauen waren sich sicher: „Das ist mein Sohn.“

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Viele Juristen sahen schon während des Prozesses die zunächst auf „Mord zweiten Grades“ lautende Anklage als Handicap. Muss doch dafür ein Motiv wie Rassenhass nachgewiesen werden. Das misslang gründlich. Kurz vor Schluss schwenkte die Staatsanwaltschaft auf Totschlag um, was immer noch eine Haftstrafe von bis zu 30 Jahren hätte bedeuten können. Dass die Jury auch dies verwarf, ist – gemessen an der riesigen Enttäuschung, die sich im Internet breitmacht – ein „Schlag ins Gesicht dieser Nation“, wie der schwarze Bürgerrechtler Al Sharpton sagt. Gemeinsam mit anderen Aktivisten will er das Justizministerium in Washington davon überzeugen, eine Ziviklage gegen Zimmerman anzustrengen.

Obama plädiert dafür, das Urteil zu akzeptieren

US-Präsident Obama stufte das Urteil so ein: "Dieser Fall und der Tod des jungen Trayvon Martin sind eine Tragödie für Amerika. Ich verstehe, dass nun die Emotionen überall hochkochen. Ich bitte aber alle Amerikaner, den Wunsch der Eltern, die ihren jungen Sohn verloren haben, nach ruhigem Überlegen zu folgen. Ich plädiere dafür, das Urteil zu akzeptieren. Es wurde von einer Jury gesprochen, und diese Nation ist ein Rechtsstaat. Wir sollten uns aber fragen, ob wir in Amerika genug tun, um unseren Zusammenhalt zu stärken und die Gewalt mit Waffen einzudämmen."

Aufschrei der Empörung überall in den USA 

Der Freispruch von George Zimmermann hat einen Aufschrei der Empörung ausgelöst. Aus New York, Philadelphia, San Francisco, Los Angeles, Atlanta und Chicago meldeten Nachrichtensender Demonstrationen. In Oakland kam es zu Gewalt. Protestierende steckten Autos in Brand und warfen Fenster ein. Konservative Gruppen lobten dagegen die Jury. Sie habe der Versuchung widerstanden, ein „Exempel zu statuieren an einem Mann, der sich doch nur wehren wollte.“

Kommentatoren in den Zeitungen beschreiben das Urteil als „große Bewährungsprobe“ für den „Zusammenhalt einer auseinander fallenden Gesellschaft“. Wenn sich der Eindruck festsetzt, dass afro-amerikanische Eltern ihre Kinder abends nicht mehr auf die Straße lassen können, weil sie an „Typen wie George Zimmermann geraten können, haben wir verloren“, sagte gestern früh ein Professor der American University in Washington dieser Zeitung, der seinen Namen nicht gedruckt sehen möchte.

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Mit Spannung sei nun abzuwarten, wie sich Präsident Obama verhalte, „welche Worte er findet für die Schmerzen und die Wut von Hunderttausenden Schwarzen“. Die Vorstellung, dass der Rassismus in den USA der Vergangenheit angehöre, „nur weil wir nun zweimal hintereinander einen schwarzen Präsident gewählt haben“, sei jedenfalls mit diesem Urteil „endgültig begraben“.

Zimmerman konnte sich auf "Stand Your Ground" berufen

Carl Hiassen, der bekannte Reporter des in Florida erscheinenden „Miami Herald“ und Krimi-Buchautor, setzte den aus seiner Sicht entscheidenden Punkte bereits vor Wochen: „Allein George Zimmermann hat den Boden bereitet, der zu Trayvon Martins Tod führte“, schrieb Hiassen in einer viel beachteten Kolumne. „Nachdem Zimmermann sich entschieden hatte, den Jungen zu verfolgen und dabei bleib, war nichts Gutes mehr zu erwarten.“

Manche Kritiker führen einen Aspekt an, der im Prozess zuletzt fast unterging. George Zimmermann konnte sich auf das sogenannte „Stand Your Ground“-Gesetz („Weiche nicht zurück“) berufen, das in Florida besonders großzügig gestaltet ist. Es bedeutet: Wer sich oder andere bedroht sieht, hat keine Verpflichtung zum deeskalierenden Rückzug. Er darf seine Position gegenüber einem vermeintlichen Angreifer behaupten; ausdrücklich auch mit einer Waffe. Am Ende stehen nach Gesetzen, die mittlerweile in fast der Hälfte der Bundesstaaten gelten, „gerechtfertigte Tötungen“.

Die Waffen-Lobby „National Rifle Association“ (NRA) hat das Zustandekommen von „Stand Your Ground“ befördert. Seit Einführung der Regel ist die Zahl dieser Todesfälle in den USA (zuletzt rund 700 im Jahr) um die Hälfte gestiegen, in Florida sogar um mehr als Doppelte. Laut FBI wurden zwischen 2005 und 2010 ein Drittel aller Fälle, bei denen ein Weißer einen Schwarzen tötete, von Gerichten als „gerechtfertigte Tötungen“ anerkannt. Umgekehrt – schwarzer Schütze, weißes Opfer – waren es drei Prozent.