Essen. Vor 30 Jahren versank die Fähre „Estonia“ in der Ostsee. 852 Menschen starben. Über die Ursache für den Untergang wird bis heute spekuliert.
Fünf Meter hoch können die Ostsee-Wellen im Herbst schlagen. Aber Fahrpläne sind einzuhalten. Mit 989 Menschen an Bord, 40 Lastwagen und 34 Pkw steuert Kapitän Ivo Andresson die 155 Meter lange und zehn Stockwerke hohe Fähre „Estonia“ durch das aufgewühlte Meer mit Kurs Stockholm. Der riesige Pott kommt aus Tallinn in der neuen Republik Estland. Das Ende der Sowjetunion, aus deren Resten heraus sich Estland unabhängig gemacht hat, liegt keine drei Jahre zurück. Wer auf dieser Passage bucht, der will Freiheit und Lebenslust in der offenen Welt des Westens nutzen oder das Unbekannte im Osten erforschen.
Doch diese Nacht ist tiefschwarz. Im heftigen Sturm treibt immer stärkerer Regen heran. Die „Estonia“ wird die schwedische Hauptstadt nicht erreichen und 852 Menschen an Bord den Tagesanbruch des 28. September 1994 nicht erleben. Sie werden Opfer der schlimmsten Schiffskatastrophe auf der Ostsee seit Ende des 2. Weltkriegs.
Das Meer ist nie ein sicherer Fahrweg gewesen. Immer wieder verschwanden Segler und Dampfer in der Tiefe. Die „Titanic“ 1912. Der Containerfrachter „München“ 1978. In Nord- und Ostsee waren es erst jüngst Fährschiffe wie die „Herald of Free Enterprise“ in der Straße von Dover, die brennende „Scandinavian Star“ im Skagarak und die „Jan Heweliusz“ im Sturm vor Rügen. Und nun die „Estonia“.
Die Gäste feiern
Unter Deck der Fähre, im Pub „Admiral“, spüren die feiernden Gäste auf dem Tanzboden den wilden Wellenritt des Kapitäns geradezu körperlich. Kurz nach Mitternacht knallt es. Ein Mal. Zwei Mal. Vielleicht hat es einen dritten Schlag gegeben. „Etwas schlug heftig gegen das Schiff“, so die Überlebende Marianne Ehn. Der 25-jährige estnische Maschinist Henrik Sillaste nimmt im Kontrollstand des Maschinenraums noch anderes wahr: „Auf dem Monitor sahen wir, wie große Wassermengen durch die Bugklappe ins Deck hineinströmten. Sie kamen durch das Tor, durch das die Pkw das Wagendeck verlassen.“ Das Schiff kippt nach rechts. „Ich sehe Wasser durchs Fenster“, ruft Herbert Augustin in einer hoch liegenden Kabine. Sein Bettnachbar Georg Sörnsen schreit: „Raus hier“.
Fünf Fährschiffe, darunter die „Mariella“ und die „Silja Europa“, eilen nach einem ersten Hilferuf der „Estonia“ („Wir haben Schlagseite“) auf die geortete Unfallstelle zu. Bei dem hohen Wellengang brauchen sie viel Zeit. 30 Minuten sind vergangen, als auf ihren Kommandobrücken noch einmal „Mayday“ aufschlägt. „Hier ist die Estonia. 20 bis 40 Grad schwere Schlagseite. Maschinen ausgefallen. Blackout.“ Dann: Nichts mehr. Die Brecher sind über den Menschen auf der Autofähre zusammengeschlagen.
Fünf Minuten vor ein Uhr verschwindet die „Estonia“ vom Radar. Ihre letzte Position ist 35 Seemeilen südöstlich der Insel Utö. Der Todeskampf hat eine knappe halbe Stunde gedauert. Das Sinken hat sich für ein Wasserfahrzeug, das zehn Stockwerke hoch gebaut ist, in kaum erklärbarem Tempo abgespielt.
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Die Zeugen Bogren und Ehm werden später davon einer Expertenkommission erzählen. Sie gehören zu den 137 Überlebenden der nächtlichen Tragödie, die von der finnischen „Mariella“ und den ersten Hubschraubern geborgen werden. 852 andere Passagiere, die überwiegende Zahl Schweden und Esten, sind in steil geneigten Gängen zu Tode gestürzt, in offenen Flößen ertrunken oder ohne jede Hilfe im Meer. Am Ende treiben auf den Wellen herrenlose Schwimmwesten, leere Rettungsboote und massenhaft Leichen. „Wir sind zu spät“, meldet ein Rettungspilot seiner Zentrale.
Brisante Indizien sind bis heute ungeklärt
Was hat die Autofähre 70 Meter tief auf den Grund sinken lassen? Fegte die aufgewühlte See die Bugklappe weg, die für Autofähren eine typische Schwachstelle darstellt, und drang ungehindert ins Autodeck? So steht es im offiziellen Untersuchungsbericht über die Katastrophe. Hatte der Kapitän dieses wichtige Teil selbst geöffnet und wenn ja, warum? Waren die Klappenverschlüsse wirklich marode? Seit drei Jahrzehnten warten Angehörige auf die Antworten.
Schnell haben damals Schwedens Regierung und die zuständige nationale Behörde JAIC die Ursache für das Schicksal des Schiffes benannt. Das zu leicht gebaute Bugvisier sei abgerissen. Eindringendes Wasser habe dann das Schiff sinken lassen. Die Aussage des Maschinisten Sillaste wird als belastbare Bestätigung gesehen. Tatsächlich ist der Bug eine Schwachstelle, die mehrfach im Fährbetrieb zu Unfällen führte, zuletzt 1987 bei der „Herald of Free Enterprise“, in der 200 Fahrgäste versanken.
Aber damit wären auch Schuldige gefunden: die Konstrukteure der Fähre. Das waren, 14 Jahre zuvor, Mitarbeiter der deutschen Meyerwerft in Papenburg an der Ems. Zudem, ein zweiter Grund, den die JAIC nennt: Die estnische Reederei habe es mit der Wartung nicht ernst genommen. Möglich, dass Schlamperei und zum Zeitpunkt der Katastrophe defekte Scharniere beim raschen Sinken eine Rolle gespielt haben.
Brisante Indizien sind bis heute ungeklärt. Die zwei bis drei explosionsartigen Geräusche, die Zeugen wahrnahmen, die durch viele Überlebende bestätigt wurden und die für Sprengsätze sprechen könnten. Ominöse Bombenwarnungen und erpresserische Drohungen hatte die Reederei über ein halbes Jahr und noch kurz vor der Abfahrt der „Estonia“ erhalten.
Verdachtsmomente könnten Anschlagsmotive ergeben. „Das galt uns“, haben estnische Politiker bald geäußert, die vom gewaltsamen Tod einer ihrer Zollbeamten wussten, der Ermittlungen zu illegalen Seetransporten geführt hatte. „Estonias“ Ruf war etwas zweifelhaft. Ein Schmuggelschiff. Auf der Route Tallinn-Stockholm sei in seinem Bauch mehrfach geheimes militärisches Gut befördert worden, bestätigen schwedische wie estnische Beamte.
Das Wrack der „Estonia“ liegt nicht tief. Eine Bergung wäre möglich. Die Politiker in Stockholm, Helsinki und Tallinn versprachen sie Stunden nach den Ereignissen. Warum das auch 30 Jahre später noch nicht geschehen ist? Unklar. Stattdessen wurde das Seegebiet von den Schweden militärisch abgeriegelt, Tauchgänge wurden unter Strafe gestellt. Die Totenruhe solle nicht verletzt werden, hieß es. Sogar ein „Betonsarg“sollte um das Schiff errichtet werden. Er war dann zu teuer.
„Das Bugvisier war überlastet“
Gutachten folgte auf Gutachten, Untersuchung auf Untersuchung. Selbst zwei staatliche Institute in Deutschland kamen bei der Beurteilung der Frage, ob eine Bombe eine Rolle gespielt haben könnte oder eher doch die marode Bugklappe, zu entgegengesetzten Ergebnissen. 2000 eröffnete die Hamburger Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Terrorismus – um es 2002 wieder einzustellen. Immerhin gewann die Papenburger Meyer-Werft einen entscheidenden Prozess am Sitz der Versicherung Veritas in Paris: Die Schiffsbauer von der Ems, die die „Estonia“ 1980 vom Stapel ließen, haben demnach keine Baufehler gemacht. Für mögliche Wartungsmängel tragen die Deutschen wiederum keine Verantwortung.
Zuletzt kam Stefan Krüger, Professor an der Technischen Universität Hamburg-Harburg und eingeschaltet in die Untersuchungen, zu folgendem Schluss über den Ablauf der Todesnacht: „Das Bugvisier ist abgefallen, weil es überlastet und außerdem schlecht gewartet war. Dann hat der Dampfer das Visier überfahren und durch den Seegang ist massiv Wasser eingedrungen“. Doch bedauert auch er, dass man sich das Autodeck nicht genauer ansehen durfte. „Ich sehe da schon ein paar Fragezeichen“. Schweden beendete die Ermittlungen im Februar 2024.
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