Bochum. Vor zehn Jahren schloss das Opel-Werk in Bochum. Manche Ex-Mitarbeiter haben damit immer noch zu kämpfen.
Du hast’n Pulsschlag aus Stahl. Man hört ihn laut in der Nacht“, singt Herbert Grönemeyer in „Bochum“, seiner Hymne auf eine alte Industriestadt. Am 5. Dezember 2014, einem Freitag, so gegen 0.30 Uhr, lief ein dunkelgrauer Zafira-Familien-Van vom Band. Es war das letzte Auto, das im Bochumer Opel-Werk produziert wurde. Danach standen die tonnenschweren Pressen, die Autotüren, Motorhauben und Kotflügel im Drei-Sekunden-Takt aus Stahlblech geformt hatten, für immer still. Kein Puls mehr. Aus.
Von der Opel-Ära in Bochum geblieben sind ideelle Werte. Vor allem die Erinnerung an die freundschaftliche Verbundenheit untereinander, die familiäre Atmosphäre und der Stolz darauf, Opelaner zu sein, oft in der zweiten oder sogar dritten Generation – ähnlich wie die Kruppianer in Essen und die Thyssianer in Duisburg. Geblieben ist aber auch der Phantomschmerz über das unwürdige Aus für Bochum, das der Mutterkonzern General Motors und Opel dem Standort Bochum zugedacht hatten. Vorausgegangen war ein zehnjähriger Kampf um den Erhalt des Werkes.
An der Spitze der Bewegung stand damals der Betriebsratsvorsitzende Rainer Einenkel, heute 70 Jahre alt. In dem Buch „Hundert sieben Sachen aus der Schriftenreihe des Bochumer Zentrums für Stadtgeschichte“ (Klartext Verlag Essen, 2017) schreibt der Gewerkschafter: „Für die Kolleginnen und Kollegen bleibt der Stolz auf ihre Leistung. 55 Jahre wurden hochwertige Fahrzeuge produziert, man war Stammwerk der Kadett- und Astra-Modelle, des Zafira und vieler Fahrzeug-Komponenten.“ Es blieben, so Einenkel, wichtige Erfahrungen und Erlebnisse über eine Zeit des Widerstands, der Hoffnungen, Freundschaften, schwierigen Verhandlungen, aber vor allem einer großartigen Solidarität der ganzen Region.
„Für die Kolleginnen und Kollegen bleibt der Stolz auf ihre Leistung.“
Begonnen hatte alles Ende der 50er Jahre, als bei Opel ein neuer Kleinwagen konzipiert wurde. Es handelte sich um eine Neuauflage des Opel-Kadett, der von 1936 bis 1940 bereits im Stammwerk Rüsselsheim gebaut worden war. Dort fehlte aber der Platz. So kamen Bochum und das Ruhrgebiet ins Spiel. Wegen des Zechensterbens, das sich immer deutlicher abzeichnete, gab es hier gut ausgebildete Facharbeiter und Flächen im Überfluss. Monatelang verhandelten GM, die Stadt Bochum und die damalige NRW-Landesregierung unter Franz Meyers (CDU) sehr diskret über die Ansiedlung, ehe am 20. Mai 1960 die entsprechenden Verträge unterzeichnet wurden. Auf den Geländen der Zeche Dannenbaum in Bochum-Laer und der Zeche Bruchstraße sollten die hochmodernen Fabrikanlagen gebaut werden.
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Am 10. Oktober 1962 war es dann soweit: In Bochum lief das erste Auto vom Band, ein Kadett A, der als Gegenpart zum VW Käfer entwickelt worden war. Gerade mal neun Monate später, am 20. Juni 1963, wurde der 100.000. Kadett in Bochum gefeiert, insgesamt produzierten die Opelaner bis 1965 rund 650.000 Kadett A. Noch erfolgreicher war das Nachfolgemodell Kadett B, von dem über 2,6 Millionen Fahrzeuge verkauft wurden. „’Egal ob Limousine, Kombi oder Coupé – das allergeilste Auto ist ein Kadett B’ sangen die Toten Hosen später in ihrem Stück über die Opel-Gang“, erinnert sich Einenkel.
Nicht nur komplette Pkw wurden damals in Bochum gebaut. In Werk II in Langendreer stellte man Komponenten wie Getriebe, Motoren und Achsen für Bochum und andere Standorte in Europa her. Werk III mit dem Teile- und Zubehörlager in Werne ging 1965 in Betrieb. Zeitweise beschäftigte Opel in Bochum über 22.000 Menschen. Hinzu kamen Zehntausende, die bei den Zulieferern und im Handel für Opel arbeiteten. Mit 20 Prozent hatte Opel damals den größten Marktanteil auf dem deutschen Automarkt.
Als in den 80er- und 90er-Jahren mehr und mehr japanische und koreanische Hersteller auf den deutschen Markt drängten, verstärkte sich die Krise der Automobilindustrie. Anders als andere Unternehmen hatte General Motors keine Strategie dagegen, sondern „verschärfte durch seine Entscheidungen die Lage für Opel und die Belegschaften“ resümiert Rainer Einenkel. So durfte Opel nicht auf den zukunftsträchtigen Märkten in Asien und Afrika antreten, weil GM dort keine Konkurrenz zu seinen US-Marken Chevrolet und Buick duldete.
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Opel blieb eine auf Europa begrenzte Regionalmarke – ein schwerwiegender Wettbewerbsnachteil. Viele Entwicklungsschritte in Sachen Antriebstechnik und neue Modelle blieben aus. Zudem setzte GM-Manager Ignacio Lopez, der später zu VW wechselte, die Zulieferer einem brutalen Preisdruck aus. Fatale Folgen für Opel: Qualitätsprobleme bei den Zulieferteilen, was sich rasch herumsprach. Der gute Ruf der Marke war angekratzt, der Marktanteil rauschte auf sechs Prozent herunter.
Der lange Kampf um den Standort Bochum begann schon zu Beginn der 2000er- Jahre, als GM von den europäischen Werken drastische Sparmaßnahmen und den Abbau von Kapazitäten verlangte. Im Oktober 2004 war dann erst einmal von einer möglichen Schließung des Werkes Bochum und anderer Standorte in Europa die Rede. Die Reaktion darauf: ein spontaner einwöchiger Streik, vom Betriebsrat als Informationstage deklariert. Es folgten nervenzehrende Jahre für Bochum und die Opelaner. GM meldete 2009 in USA Konkurs an, machte 17 Werke dicht und wurde schließlich durch den Staat gerettet.
In Europa waren es Opel-Werke in Belgien, England, Schweden und Portugal, die geschlossen wurden. Immer drastischere Konzepte, mit denen Kosten gesenkt und Kapazitäten abgebaut werden sollten, kamen auf den Tisch. Zusagen und vertragliche Vereinbarungen wurden, so Einenkel, nicht eingehalten. So wurde der Astra nicht, wie angekündigt, ausschließlich in Bochum, sondern auch in Rüsselsheim gebaut, wodurch der Standort im Ruhrgebiet erneut in Gefahr geriet.
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Fest stand, dass ein deutsches Werk schließen sollte. Die Solidarität der Opelaner bröckelte, auch innerhalb der IG Metall. Da die Bochumer an drei Fronten antreten mussten – gegen GM, die Opel-Führung und den Gesamtbetriebsrat – war der Kampf nicht zu gewinnen. Auch die bewegenden Solidaritätsbekundungen der Bochumer und des Schauspielhauses vermochten das Blatt nicht zu wenden. Im Dezember 2012 kam dann der kommissarische Opel-Chef Thomas Sedran mit 70 Bodyguards nach Bochum, verkündete, dass die Schließung notwendig sei, um andere Opel-Werke zu retten – und war nach sieben Minuten ohne Diskussion wieder verschwunden. Im Dezember 2014 war dann endgültig Schluss. Von den verbliebenen 3300 Beschäftigten wechselten 2700 in eine Transfergesellschaft, andere kamen in anderen Opel-Betrieben unter.
Wie blicken ehemaliger Opel-Werker mit zehn Jahren Abstand auf die Zeit zurück? Michael Walta (56), damals Meister und Betriebsleiter, der danach als Seiteneinsteiger Grundschullehrer wurde und auch als gefragter Bauchredner auftritt, betont die positiven Seiten: Es war eine tolle Zeit, in der wir uns wie eine große Familie fühlten. Natürlich gab es auch Stress untereinander, aber wir haben immer zusammengehalten.“ Was ihn noch wurmt, sind Kennziffern der deutschen Opel-Werke, in denen Bochum benachteiligt worden war. „Wir waren die Nummer eins, hatten die besten Zahlen.
Auch Thomas Bruno Schmitz, der 32 Jahre bei Opel war und zuletzt Getriebe gebaut hat, erinnert sich, „dass ich mehr Zeit im Werk verbracht habe als mit meiner Frau. Trotzdem war es eine gute Zeit.“ Hart seien die letzten zehn Jahre gewesen: „Jeder sah seine Felle wegschwimmen.“ Seit Jahren steht der Ex-Opelaner nun mit seinem Imbissstand an der Real-Baustelle in Bochum-Langendreer, die längst nicht fertig ist. Dort serviert er heute Currywurst und Pommes frites. Die Laufkunden fehlen noch, aber die vielen Stammkunden halten dem 61-Jährigen die Treue: „Auf die kann ich mich verlassen.“
Rainer Einenkel tauchte damals als Betriebsratsvorsitzender oft in den Medien auf, scheute nicht den Konflikt mit Konzernführung, Gesamtbetriebsrat und der IG Metall, um den Standort Bochum zu retten. Auch er spricht von der familiären Atmosphäre bei Opel. In den Jahren danach habe man sich oft getroffen, Erinnerungen ausgetauscht. Ob er immer noch Gewerkschafter sei, wollen wir wissen. „Trotz aller Enttäuschungen bin ich immer noch Mitglied der IG Metall.“ Für Andreas Graf Praschma (78), einst Pressesprecher bei Opel, bleibt vor allem die Solidarität der Bochumer Stadtgesellschaft mit den Opelanern in Erinnerung: „Das war großartig.“ Das Verhalten des Konzerns kritisiert er noch heute: „Der Umgang mit den Menschen in Bochum war würdelos.“
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