München/Bad Berleburg. Ein Sechsfachmord in Bayern ist auch nach 102 Jahren ungeklärt. Nun gibt es zu dem Fall, der dem Roman „Tannöd“ als Vorlage diente, eine Spur.
Blutüberströmt liegen vier Tote im Stall. Die Leichen sind mit Holz abgedeckt. Zwei weitere Opfer finden Dorfbewohner in der Küche und in der Stube der Magd. Der einsame Bauernhof Einöd in der Schrobenhausener Gemarkung Hinterkaifeck, zwischen München und Augsburg gelegen, ist ein grausamer Tatort. Der oder die Täter müssen die Beherrschung verloren haben. Alle Opfern starben, weil ihnen mit der Reuthaue, eine Art Spitzhacke, die Schädel eingeschlagen wurden.
Die Tat ist heute 102 Jahre her und eine der rätselhaftesten der deutschen Kriminalgeschichte. Die Morden bildeten die Vorlage für den Bestseller „Tannöd“ von Andrea Maria Schenkel; das Buch wurde verfilmt, als Kulisse diente ein Bauernhof bei Bad Berleburg im Kreis Siegen-Wittgenstein. Es gibt auch ein Theaterstück. Die Polizeischule Fürstenfeldbruck nutzte den Fall als Lehrstoff. Bayerns Polizeimuseum fand elf Varianten, wie das Drama abgelaufen sein könnte. 100 Verdächtige, von Verwandten über Nachbarn bis zum entflohenen Insassen einer „Heilanstalt“, standen auf der Ermittler-Liste. Im 2. Weltkrieg vernichteten Bomben Teile der Akten in Augsburg. 1955 wurde das Verfahren ergebnislos eingestellt.
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Die Opfer. Die Nacht vom 31. März auf den 1. April 1922 hat die 35-jährige Viktoria Gabriel nicht überlebt. Zu den Mordopfern zählten auch ihr 64-jähriger Vater Andreas Gruber, ihre 70-jährige Mutter Cäzilia, Viktorias 7- und 2-jährige Kinder Cilli und Josef sowie die 44-jährige Haushaltshilfe Maria Baumgartner. „Bestialisch“ sei der Täter vorgegangen, stand später auf dem Fahndungsplakat der Staatsanwaltschaft.
Als die Bluttat geschieht, ist der Erste Weltkrieg keine vier Jahre her. Karl Gabriel, der Ehemann der Tochter Viktoria, war schon in den ersten Kriegstagen gefallen. Die Geburt seiner Cäzilia hat er nicht mehr erlebt. Der alte Gruber hat das Gehöft auf Viktoria übertragen, wohl eher der Form nach. Der Bauer behält das Sagen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse auf Hinterkaifeck gelten als stabil, was von den privaten weniger zu sagen ist. „Mei Tochter braucht keinen Mann mehr, dafür bin i da“ hat Gruber lauthals festgestellt. Im ganzen Dorf wissen sie: Der Alte hat ein Verhältnis mit der jungen Witwe und wurde wegen „Blutschande“ inhaftiert. Sie selbst ließ sich zeitweise auf eine Beziehung mit dem Nachbarn ein, dem Ortsvorsteher Lorenz Schlittenbauer.
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Die Ermittlungen. Der Monatswechsel vom März zum April 1922 fällt auf ein Wochenende. Es ist kalt, neblig, Schnee rieselt. Samstags tauchen Händler am Hof auf. Niemand öffnet ihnen. Montags radelt der Postbote Josef Maier vor. Er bringt, wie immer, die Wochenzeitung. Keiner nimmt sie ihm ab. Dienstags erscheint der Monteur, der den defekten Motor reparieren soll. Er klopft vergeblich. Er bricht die Hoftür auf und macht sich an die Arbeit. Nach vier Stunden, als er geht, fällt ihm auf: Ein anderes großes Hoftor, das bei seiner Ankunft verschlossen war, steht jetzt weit offen. Er sieht den Hofhund an der Haustür angeleint. Das war bei seiner Ankunft noch nicht so. Irgendwas geht hier vor. Beunruhigt meldet er dem Ortsvorsteher Schlittenbauer die seltsamen Vorkommnisse auf dem Hof.
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Ortsvorsteher Schlittenbauer läuft mit fünf anderen Männern aus dem Dorf zum Hof. Er bricht das Scheunentor auf. Bald erkennen die Männer das Ausmaß des Verbrechens. Nachdem sie sechs Leichen gefunden haben, informiert der Ortsvorsteher die örtliche Polizei, die alarmiert die Polizeidirektion im 80 Kilometer entfernten München. Die Mordermittler nehmen am 5. April früh um 4.30 Uhr die Arbeit auf. Kriminaloberinspektor Georg Reingruber steht unter Zeitdruck. Nach dem Fund einer geöffneten Geldbörse in der Kammer von Viktoria Gabriel zeigt er sich überzeugt: Raubmord. Das bleibt über Jahrzehnte als Ermittlungsergebnis stehen. Dass die Grubers zwei Tage vor der Tat Spuren im Schnee gesichtet hatten, die zum Gehöft hin führten, aber keine, die wegführten, spielt in den Recherchen keine Rolle. Seltsame Geräusche, über die die Bewohner berichtet hatten? Auch sie bleiben eher eine Randnotiz.
Die Fahndungsfehler. Hauptkommissarin Michaela Forderberg-Zankl und ihre Seminargruppe an der Polizeischule haben 2005 die Aufklärung mit dem Instrumentenkasten der modernen Zeit versucht. Sie haben Kisten mit Unterlagen des Augsburger und Münchner Staatsarchiv durchsucht, einen „Trend“ entwickelt und am Ende an einen bestimmten Täter gedacht. Sie nennen den Namen nicht, um Nachfahren nicht mit Unbeweisbarem zu belasten. Ihr 188-Seiten-Bericht vermerkt: Zwar seien Vernehmungen korrekt abgelaufen. Aber Schaulustige konnten Spuren am Tatort zertrampeln, bevor die Polizei anrückte. Der Motormonteur wurde erst drei Jahre nach der Tat vernommen. Fingerabdrücke blieben ungenutzt. Die finanzielle Lage der Gruber schien kein Fahnder notiert zu haben, obwohl Viktoria vor der Mordnacht Sparkonten aufgelöst und Kredite von Verwandten aufgenommen hatte.
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Die Raubmord-These haben die Kommissarschüler am Ende verworfen: „Zu viele Wertgegenstände waren noch an Ort und Stelle.“ Würgespuren am Hals von Viktoria fand die Gruppe aufschlussreicher. Die 35-Jährige war wohl die erste Tote der Tatnacht. Auch Josef, der 2-Jährige, könnte eine Schlüsselfigur gewesen sein. Ging es um die Vaterschaft? Darum, dass der alte Gruber eine Hochzeit Viktorias mit Schlittenbauer durchkreuzt hatte? Um die Zahlung von Unterhalt? Um ein Familiendrama also? War Lorenz Schlittenbauer, der Ortsvorsteher und mutmaßliche Vater des Josef, der Täter? Viele Ansätze, keine konkrete Spur.
Die Fememord-Theorie. Hauptkommissarin Forderberg-Zankl hat, angestoßen von Diskussionen im Internet, „Indizien“ für einen noch anderen Verdacht gefunden. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs hatten den Deutschen ein „Waffenverbot“ auferlegt. Im ganzen Reich, besonders in Bayern, bildeten sich daraufhin Einwohnerwehren. Die völkisch-nationalistisch ausgerichteten Gruppen legten illegale Waffenlager an. Mehr als 300.000 Waffen waren laut Versailler Vertrag abzugeben. Doch die Hälfte davon blieb am Ende verschollen.
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Ein abgelegenes Gehöft, so die Vermutung der Ermittlerin, wie das der Grubers konnte als Versteck dienen, Unterlagen aus dem Staatsarchiv belegen, dass Andreas Gruber Mitglied einer Einwohnerwehr war. Es ist eine Theorie. Vielleicht war Hinterkaifeck solch ein Waffenlager. Gruber und seine Familie wussten vom Versteck und wurden für die Lagerung bezahlt. Irgendwann ging es um mehr Geld. Der Bauer drohte, alles auffliegen zu lassen. Ein Begriff der Weimarer Zeit kommt ins Spiel: Fememord. Menschen, die als „Verräter“ galten, wurden aus Rache und nicht selten auch durch „Übertötung“ umgebracht – die ganze Familie wurde ausgelöscht.
In Bayern sind für die Jahre 1920 bis 1923 sechs Fälle bekannt - wie der Mord an Maria Sandmayer in München. Sie hatte ein illegales Waffenlager angezeigt und war an den Falschen geraten. Als man die Tote fand, lag neben ihr eine Warnung: „Du Schandweib hast verraten dein Vaterland. Du wurdest gerichtet von der Schwarzen Hand.“
Vieles bleibt also bis heute offen im Fall Hinterkaifeck. Der Hof wurde 1924 abgerissen. Das Grundstück ist heute ein Feld, ein Marterl erinnert an das Massaker.
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