Essen. Eine Schwedin verzaubert mit ihrem Liebeskummer, Joseph Beuys holt sich eine blutige Nase, ein Portugiese bekommt ein Moped. Das geschah 1964.

Es war kein Jahr wie andere: 1964 kamen in Deutschland 1.357.304 Kinder auf die Welt, davon im Westen 1.065.437, im Osten 291.867. 1964 geht damit als geburtenstärkster Jahrgang in die deutsche Nachkriegsgeschichte ein. Die Generation ‘64, die jetzt 60 wird und so langsam Richtung Rente geht, wurde wegen ihres schieren Umfangs jahrzehntelang mit wenig schmeichelhaften Beinamen tituliert: erst „Geburtenberg“, dann die „Schülerwelle“, später der „Rentnerberg“.

Inzwischen hat sich der Begriff „Boomer“ etabliert, abgeleitet von Babyboomer. Wir blicken zurück auf das Jahr, das nicht nur die Boomer gebar, sondern auch zukunftsweisende, tragische und skurrile Ereignisse hervorbrachte.

Früher war mehr Schnee - oder?

Der Begriff „Klimawandel“ ist 1964 noch nicht geboren. Doch das Wort vom Föhn ist in aller Munde, als im Februar in Innsbruck die Olympischen Winterspiele anstehen. Der Föhn bricht am 2. Februar über das Inntal herein, die Bob- und Rodelbahnen schwimmen förmlich davon. Die Rennen müssen teilweise um 7.30 Uhr angesetzt werden, um die Chance auf einen Durchgang zu wahren. Die österreichische Armee eilt zur Hilfe, schnitzt 20.000 Eisblöcke aus den Berghängen der Hochtäler transportiert sie hinunter zu den Rodel- und Bobbahnen. Außerdem bringt sie 40.000 Kubikmeter Schnee zu den Skipisten. Und dann: Wider alle Voraussagen gibt es in der Nacht vom 3. auf den 4. Februar einen Temperatursturz. Es schneit. Die Spiele sind gerettet.

Willy Brandts schwerer Start

Willy Brandt (l.) 1964 mit Klaus Schütz.
Willy Brandt (l.) 1964 mit Klaus Schütz. © picture alliance / Fritz Fischer | dpa Picture-Alliance / Fritz Fischer

Als Willy Brandt am 16. Februar auf dem SPD-Parteitag in Bad Godesberg für das Amt des Parteichefs kandidiert, ist er keineswegs die Lichtgestalt der Sozialdemokratie. Brandt, 51 Jahre alt, wird bei der SPD mehr geduldet als herbeigesehnt. Er ist zwar Regierender Bürgermeister von West-Berlin, als Kanzlerkandidat seiner Partei aber auch schon einmal an Konrad Adenauer gescheitert. Seine Erfolgsbilanz? Eher dünn. Doch so richtig fehlt bei den Sozialdemokraten die Alternative, weshalb Brandt zum SPD-Vorsitzenden gekürt wird. Die Delegierten wählen Brandt auch gleich zum Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 1965. Dort unterliegt er erneut, diesmal gegen Ludwig Erhard. Brandt zieht sich enttäuscht aus der Bundespolitik zurück. Ein Jahr später wird dann alles anders sein: In Bonn wird Brandt unter CDU-Kanzler Kurt-Georg Kiesinger Vizekanzler. Und weitere drei Jahre danach ist Brandt doch noch Regierungschef und avanciert zum politischen Vorbild einer Generation. Der Fehlstart von Bad Godesberg – war da was?

Die USA schlittern in den Vietnam-Krieg

Die USA sind die Schutzmacht der Bundesrepublik und der „Frontstadt“ Berlin. Doch im fernen Washington braut sich etwas zusammen, was das Interesse der Amerikaner an der Deutschland-Frage in den Hintergrund rücken lässt. Anfang August meldet die US-Regierung, nordvietnamesische Kriegsschiffe hätten im Golf von Tongking zwei amerikanische Zerstörer angegriffen. Die Reaktion von US-Präsident Lyndon B. Johnson ist deutlich, er lässt seinerseits Ziele in Nordvietnam bombardieren. Nur wenige Tage später genehmigt der Kongress Johnson weitgehende Befugnisse zur Ausweitung der amerikanischen Intervention in Fernost. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die USA den Südvietnamesen Soldaten schicken wird, im Krieg gegen den kommunistischen Norden.

Der Protest gegen den erbarmungslosen Vietnamkrieg der Amerikaner, gegen Flächenbombardements und Napalm-Einsatz nimmt immer mehr an Wucht zu, in der Bundesrepublik ist er ein Grund für das Entstehen der 68er-Bewegung. Erst 1973 werden sich die Amerikaner geschlagen aus der Region zurückziehen – eine Schmach, die das Bild der USA in der Welt verändern wird. 1975 übernehmen die Kommunisten in ganz Vietnam die Macht. Als 2021 die USA überstürzt aus Afghanistan abziehen und das Land den Taliban überlassen, sprechen manche vom zweiten Vietnam der USA.

Mehr Texte aus Ihrer Digitalen Sonntagszeitung lesen Sie hier:

Neue Arbeitskräfte braucht das Land

Armando Rodriguez und sein Moped.
Armando Rodriguez und sein Moped. © ullstein bild | ullstein bild

Die Wirtschaft läuft längst nicht mehr so auf Touren wie noch in den Wunderjahren der Fünfziger. Doch immer noch wächst der Bedarf nach Arbeitskräften. Im März schließt die Bundesrepublik deshalb mit Portugal eine Abwerbevereinigung für Gastarbeiter ab. Damit wird auch Portugiesen ein unbefristeter Aufenthalt in der Bundesrepublik gestattet, wie zuvor schon Italienern, Spaniern, Griechen und Türken.

Und es wird ein Portugiese sein, der einige Monate später, im September am Bahnhof in Köln-Deutz als der millionste Gastarbeiter begrüßt wird. Armando Rodriguez erhält bei seiner Ankunft ein Moped als Geschenk. Die Zündapp steht heute im Haus der Geschichte in Bonn. Heute, da die deutsche Wirtschaft händeringend nach Facharbeitern sucht, reicht ein Moped sicher nicht mehr als Anreiz für eine Stelle. Homeoffice, Life-Work-Balance, Vier-Tage-Woche lauten die Schlagworte unserer Tage. Was Armando Rodriguez wohl dazu sagen würde?

DDR und Sowjetunion - von Vertrag zu Vertrag

Die DDR steht fest an der Seite des großen Bruders Sowjetunion. Am 12. Juni sorgen beide Länder dafür, dass sie das auch schriftlich haben. Ost-Berlin und Moskau unterzeichnen im Kreml den auf 20 Jahre befristeten Vertrag „über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit“. In dem Papier wird erstmals von zwei souveränen deutschen Staaten ausgegangen, West-Berlin wird als selbstständige politische Einheit betrachtet.

Erledigen wird sich die Sache mit Freundschaftsvertrag erst Ende der 80er-Jahre, als man in der Sowjetunion andere Probleme kriegt. Michail Gorbatschow will den real existierenden Kommunismus reformieren, scheitert damit grandios, das Moskauer Imperium implodiert – inklusive DDR. Deren letzte Repräsentanten werden im September 1990 mit Mehrheit einem anderen Abkommen zustimmen – dem Vertrag über die Auflösung der DDR, ihren Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland und die deutsche Einheit.

Liebeskummer und Hundejahre

Die schwedische Schauspielerin Sängerin.
Die schwedische Schauspielerin Sängerin. © Siegfried Pilz/United Archives via Getty Images | United Archives

Es ist eine junge Schwedin, die den Hit des Jahres landet. „Liebeskummer lohnt sich nicht“ trällert Siw Malmkvist und erobert die Schlagerherzen der Deutschen im Sturm. In den Charts, die 1964 noch Hitparaden heißen, hängt Siw Malmkvist sogar die Beatles mit „I want to hold your hand“ oder Ronnys Edel-Schnulze „Oh my darling Caroline“ ab. Das „Liebeskummer“ verkauft sich als Schallplatte mehr als eine Million Mal.

Als Bestseller entpuppen sich auch zwei Romane von Autoren, die über Jahre hinaus zu kritischen Begleitern der Bonner Republik werden. In den Verkaufslisten duellieren sich Heinrich Böll mit seinen „Ansichten eines Clowns“ und Günter Grass („Hundejahre“) über Monate hinweg. Böll und Grass profitieren wohl auch davon, dass ein anderer Erfolgsautor 1964 keinen neuen Roman herausbringt: Johannes Mario Simmel übernimmt er 1965 wieder die Spitze mit „Lieb Vaterland, magst ruhig sein“.

Ruhrgebiets-Zechen: Hängen im Schacht

Im Ruhrgebiet gehen nach und nach die Lichter aus – jedenfalls in den Bergwerken. Bis 1963 waren zwischen Duisburg und Dortmund schon 33 Zechen mit einer Förderkapazität von 10,3 Millionen Tonnen geschlossen worden. Die Zechenbetreiber schlossen sich 1963 zum Rationalisierungsverband des Steinkohlenbergbaus zusammen. Man will unrentable Bergwerke dichtmachen, besser laufende Schachtanlagen stärken.

Wie das konkret aussehen soll, erfahren die Kumpel im Oktober , als der Rationalisierungsverband gleich 31 Großzechen zur Stilllegung anmeldet. Die Wut und die Angst der Bergleute ist groß, doch es nützt alles nichts. Das Zechensterben geht weiter und wird sich noch über Jahrzehnte hinweg ziehen. Am 21. Dezember 2018 schließlich endet das Kapitel der Steinkohleförderung im Ruhrgebiet, als auf Prosper-Haniel in Bottrop die letzte Schicht ihre Arbeit beendet.

Joseph Beuys’ blutige Nase

Für die einen ist er ein Visionär, der mit seinem neuen Kunstbegriff die Kunstwelt radikal verändert. Andere sehen Joseph Beuys dagegen als Scharlatan oder einen Spinner, der mit seinen Mätzchen nur auf Show und Skandal aus ist. Als Beuys am 20. Juli 1964 in Aachen beim Fluxus-Festival der Neuen Kunst seine Performance startet, ist schnell klar: Er wird wieder polarisieren. Beuys befüllt ein Klavier mit Bonbons und Waschpulver, jongliert mit Spielkarten, lässt Margarine auf einer Heizplatte schmelzen.

Als er dann mit Salpetersäure hantiert, bekommt die Hose eines Studenten im Publikum ein paar Spritzer ab. Der Zuschauer ist darüber so empört, dass er Beuys einen Faustschlag ins Gesicht verpasst. Das Foto des Künstlers, der mit blutig geschlagener Nase ein Kreuz hochreckt, ist heute eine Ikone der Kunst-Avantgarde. Die Meinungen über Joseph Beuys – ob Künstler oder Blender – gehen auch heute noch weit auseinander.

Die NPD formiert sich

Keine 20 Jahre sind vergangen seit dem Ende von Nazi-Deutschland, als sich am 28. November im Hannoveraner Lokal „Marschpark“ rund 700 Funktionäre aus fast hundert Kleinparteien treffen. Es ist die Geburtsstunde der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands, kurz NPD. Die Partei, die teils extrem rechte Positionen besetzt, hat zunächst auch Erfolg, schart 30.000 Mitglieder um sich und zieht in sieben Landtage ein, verpasst aber 1969 mit 4,3 Prozent den Einzug in den Bundestag.

Stattdessen verstrickt sich die Partei in Flügelkämpfe und gerät in einen Abwärtsstrudel. Für Schlagzeilen sorgt der Namenswechsel im Sommer 2023. Seitdem nennt sich die Partei „Die Heimat“. Damit bezieht sie sich auf einen Heimatbegriff, der nicht-ethnische Deutsche und hier lebende Zuwanderer oder Ausländer ausschließt. Aus „NPD“ wird „Die Heimat“. Sonst ändert sich nix.

Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen. Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.