Essen. In Deutschland mehren sich gerade Angriffe gegen Juden. Schon vor gut 50 Jahren gab es eine Anschlagsserie – die heute aber fast vergessen ist.
David Jakubowiec wohnt im Altenheim des Israelitischen Gemeindezentrums in der Isarvorstadt von München. Am frühen Abend des 13. Februar 1970 verschiebt der 60-Jährige seine geplante Reise. Der gläubige Jude hatte zwar schon die Koffer gepackt. Aber er will nicht am nächsten Tag fliegen, sondern lieber später. Zu wichtig ist ihm die Sabbatruhe. Gebucht hat er ohnehin nur den Hinflug nach Tel Aviv. Jakubowiec, der die KZ der Nazis überlebt hat, möchte Deutschland endgültig verlassen und in Israel, dem Land der Vorfahren, friedlich alt werden.
Das ist ihm nicht vergönnt. Kurz vor 21 Uhr rasen Einsatzfahrzeuge in die Reichenbachstraße 27. Der Dachstuhl des Gemeindehauses steht in hellen Flammen. An den Fenstern stehen verzweifelte Menschen, die in Panik schreien: „Wir werden vergast. Wir werden verbrannt.“
Auch interessant
Jemand hat im hölzernen Treppenhaus 20 Liter eines Benzin/Öl-Gemischs angezündet. Später findet man einen angekokelten Aral-Kanister in braunem Packpapier. Die Aufzugtür wurde bewusst blockiert, der Fluchtweg so abgeschnitten. Das Feuer konnte sich im berüchtigten „Kamineffekt“ von unten nach oben fressen. David Jakubowiec überlebt das so wenig wie sechs weitere jüdische Bewohner: Regina Becher, 59. Georg Pfau, 63, Rosa Drucker, 59 und Siegfried Offenbacher,71, sterben hinter einer Flammenwand. Arie Leopold Gimpel, 50, wird leblos auf der Toilette gefunden. Max Blum, 71, ist aus dem 4. Stock in den Tod gesprungen. 15 Menschen werden schwer verletzt.
Ein Ausbruch von Hass auf Juden
Fünf Jahrzehnte ist das fürchterliche Verbrechen her. Nach Abschluss eines letzten Wiederaufnahmeverfahrens nannten Deutschlands oberste Fahnder am 23. November 2017 als Motiv, „dass sich der Brandanschlag gegen die Bewohner des Altenheims als Teil der jüdischen Bevölkerung in Deutschland richtete“. Damit ist klar: 25 Jahre nach Ende der Nazi-Herrschaft gab es im Land der Täter einen tödlichen Ausbruch von Judenhass. Und mehr: Der Anschlag könnte zu einer gezielten Terrorserie gehört haben, die heute fast vollständig vergessen ist.
Auch interessant
Heute müssen Juden erneut bangen. Dem grausamen Hamas-Angriff vom 7. Oktober folgen Gewaltausbrüche und Hassparolen auf deutschen Straßen. Dabei zählt die Statistik schon zwischen 1950 und 2021 mehr als 100 lebensbedrohende oder -vernichtende antisemitische Taten. Insgesamt 72 Menschen kamen dabei ums Leben. Mindestens. Einzelne Morde waren es wie der an dem Erlanger Verleger Shlomo Levin und seiner Lebensgefährtin Frieda Poeschke 1980. 1992 wurde die Garderobenfrau Blanka Zmigrod in Frankfurt erschossen. Es waren Anschläge wie der gegen Israels Olympiamannschaft 1972, die 15 Menschen das Leben kosteten, oder gegen jüdischstämmige Sprachschüler am Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn im Jahr 2000. Ein nie geklärter Vorgang.
Auch interessant
Bomben in israelische Flugzeuge geschmuggelt
Eine Konzentration der Ereignisse um die Jahreswende 1969/70 fällt auf. Am 8. September 1969 wird Israels Botschaft in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn Ziel eines Anschlags mit Handgranaten. Am 9. November ist es nur dem fehlerhaften Zünder zu verdanken, dass eine in der voll besetzten Synagoge in Westberlins Fasanenstraße deponierte Bombe nicht explodiert. Am 10. Februar 1970 stirbt der 32-jährige Ari Katzenstein auf dem Münchner Flughafen Riem, als Palästinenser eine israelische EL Al-Maschine entführen wollen. Drei Tage später kommt es zu jener Feuernacht in der Münchner Reichenbachstraße mit den sieben Todesopfern.
Am 21. Februar detonieren Bomben, die in oder via Deutschland ins Gepäck von zwei Flugzeugen geschmuggelt wurden mit dem Ziel Israel. Während die österreichische Maschine in Frankfurt notlandet, explodiert der Sprengsatz im Frachtraum des Swissair-Jets. Flug 330 Zürich-Tel Aviv stürzt bei Würenlingen ab. Keiner der 47 Insassen, darunter 20 Israelis, hat überlebt.
Keines dieser Verbrechen konnte bis heute rechtskräftig aufgeklärt werden. In seinem 2013 erschienenen Buch „...wann endlich beginnt bei euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“ geht der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar im Fall des Münchner Altenheim-Anschlags einer Fährte nach, die auch der damalige Staatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch für möglich hielt: Linksextremisten der „Südfront“ im Umfeld von Fritz Teufel, Dieter Kunzelmann und den späteren RAF-Terroristen Rolf Heißler, Brigitte Mohnhaupt und Irmgard Möller, die damals zusammen in der Münchner Metzstraße wohnten, könnten gemeinsam mit der ihnen eng verbundenen palästinensischen Organisation PFLP die Tat geplant haben. Eine Bekennerbrief-Fährte in die NPD stellte sich dagegen offenbar als Fälschung heraus.
Auch interessant
Wichtiges Beweisstück vernichtet
Wie belastbar ist die Spur in den Linksextremismus? In seinen Reihen gab es 1969 gewaltbereite Antisemiten. Einzelne drohten Juden unter Schlagworten wie „Schalom und Napalm“ mit Gewalt. Am 9. November war es nach allen vorliegenden Belegen Kunzelmanns Gruppe mit dem Bombenleger Albert Fichtner, die die Brandbombe in der Berliner Synagoge platzierte. Zwar beteuerte die Bundesanwaltschaft im Einstellungsbeschluss zum Altenheim-Anschlag, sie habe in alle Richtungen ermittelt und Beweiskräftiges nicht mehr finden können. Zumal das vielleicht wichtigste Asservat, der Aral-Kanister, schon 1995 vernichtet worden war.
Acht Tage nach dem Altenheim-Brand erfolgen die Attentate auf zwei Passagierflugzeuge, die von München und Zürich nach Israel unterwegs waren. Swissair-Flugkapitän Karl Berlinger registriert nach dem Start in Zürich am 21. Februar um 13.14 Uhr einen Druckabfall. Er ruft den Kontrollturm: „Wir müssen zurück“. Es habe eine Explosion im Frachtraum gegeben. Die nächste Viertelstunde wird für die Insassen zur Höllentour. „Feuer an Bord“, meldet das Flugzeug um 13.26 Uhr. 13.27 Uhr: Die Navigationsgeräte fallen aus. 13.33 Uhr: Rauch im Cockpit. „Ich kann nichts mehr sehen“, hören die Lotsen. Nahe der deutschen Grenze bei Würenlingen rast der Jet mit 700 km/h dem Erdboden entgegen. „330 is crashing, goodbye everybody“, ruft Copilot Armand Etienne.
Auch interessant
Leben die Täter von damals noch?
Zwei Sprengsatz-Pakete an einem Tag. Beide mit dem Ziel Tel Aviv. Beide mit baugleichen Höhenzündern. Das eine in Frankfurt aufgegeben, das andere, tödliche, offenbar in München in einen Zubringerflug nach Zürich. Die Spur der Ermittler führt nach dem Hinweis eines Israeli zur radikalsten palästinensischen Terrorgruppe, zum PFLP-Generalkommando, das sich seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 einen blutigen Untergrundkampf mit dem Staat Israel liefert. Zwei Spitzenfunktionäre werden als vermutliche Täter enttarnt: Sufian Kaddumi und Musan Jawher. Tage vorher waren sie nach Deutschland gereist, hatten sich in Frankfurt und München aufgehalten, dort die Sprengsätze zusammengebaut und sich nach der Aufgabe der Bombenpakete bei der Post wieder nach Nahost abgesetzt.
Seit fast einem halben Jahrhundert hält sich diese Version von Tat und Tätern. Doch: Ist das die ganze Wahrheit? Es gibt einen ungeheuerlichen Verdacht. Irgendwo in Deutschland könnten noch zwei unbekannte ältere Herren leben. Vielleicht 80 oder auch 90 Jahre alt. Als junge Männer könnten sie die Bombe in den Flug 330 geschleust und 47 Menschen getötet haben.
Auch interessant
Ein brisantes Dokument des FBI
2008 tauchte in der George Washington University eine sieben Seiten lange FBI-Verschlusssache mit ganz eigenem Drehbuch auf: „Arabische Terroristen greifen Westeuropa an. Der Fedayin Terrorist. Ein Profil“. Sie stammt vom Juli 1970. Schweizer Behörden und deutsche Fahnder wollen von ihr nichts gewusst haben. Die Kapitelüberschrift auf Seite 7 ist den Attentaten vom 21. Februar des Jahres gewidmet und hat Brisanz: „Two unidentified West Germans“. Danach sind im September oder Oktober 1969 zwei junge Männer im Hauptquartier des palästinensischen PFLP-Generalkommandos in der jordanischen Hauptstadt Amman aufgetaucht, die sich als westdeutsche Sympathisanten der Palästinenser vorstellten. Sie boten Mitarbeit an. Einer wies sich als Elektroingenieur aus. Zum Beweis half er beim Bombenbau.
Auch interessant
Am 10. Februar 1970 besuchten wohl Kaddumi und Jawher die neuen Freunde in Frankfurt und baten um Hilfe bei der Höhenzünder-Konstruktion. „Die Westdeutschen halfen den Terroristen, die Höhenmeter mit dem Sprengsatz zu verkabeln“, so das FBI. Die Bomben seien mit israelischer Empfängeradresse verpackt worden. Der erste Deutsche habe ein Paket in Zürich aufgegeben, der zweite in Frankfurt.
„Ein gemeinsamer Feind“
Das FBI-Papier, das unserer Redaktion vorliegt, lässt die Vermutung zu, dass die Attentate des Jahresübergangs 1969/1970 im Zusammenhang stehen und von ein und derselben Tätergruppe verübt worden sein könnten. Denn in der genannten Zeit waren tatsächlich zwei westdeutsche Gruppen bei den Palästinenserführern in Amman. Es waren Vertreter der 68er-Studentenbewegung. Elf Angehörige des SDS, des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, unter ihnen Absolventen technischer Fachrichtungen. Fünf Aktivisten der „Tupamaros“ reisten im September mit einem Ford Transit an. Mit dabei: Szenegröße und Antisemit Kunzelmann, dessen Name im Zusammenhang mit der Altenheim-Brandstiftung genau so fällt wie beim Anschlag auf die jüdische Synagoge in Berlin. Er traf in Amman laut eigenem Tagebuch „Abu Lutoff“ – der Kampfname für Faruk, den Bruder des mutmaßlichen Swissair-Täters Kaddumi.
Auch interessant
Keine Justizbehörde ermittelt heute noch wegen der Taten. Die meisten Zeugen und Verdächtigten sind tot. Kunzelmann starb 2018 in Berlin. Geschichtsbücher beschäftigen sich kaum mit dem Terror der Jahre 1969 und 1970. Auf den 1073 Seiten der „Erinnerungen“ des damaligen Innen- und späteren Außenministers Hans Dietrich-Genscher wird er gar nicht erwähnt. Wer die Brandstifter und Bombenleger waren? Rechte? Linke? Palästinenser? Charlotte Knobloch, die über 80-jährige frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, sagte uns dazu: „Es gab zu dieser Zeit eine Szene mit einem gewissen Antisemitismus. Sie könnten ja bei der Tat miteinander verbunden gewesen sein, weil sie einen gemeinsamen Feind hatten.“
Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen.Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.