Essen. Im August 1994 brachte ein Lufthansa-Jet radioaktives Material von Moskau nach München. Hatten deutsche Behörden den Deal eingefädelt?
Lufthansa 3369 hat drei Stunden Flug aus Moskau hinter sich, als die Boeing 737 am Münchner Airport aufsetzt. Ein Ost-West-Alltag an diesem Mittwoch, 10. August 1994. Das Ende des sowjetischen Imperiums liegt gerade zweieinhalb Jahre zurück. Die Welt ist eine andere geworden mit der „Wende“ – nicht nur im wiedervereinigten Deutschland. Reisefreudiger, verkehrsreicher. Aber weniger gefährlich? Die Beamten des bayerischen Landeskriminalamtes warten angespannt in der Gepäckhalle C. Agenten des Bundesnachrichtendienstes haben sich postiert. Alle wissen: In einem ausgeladenen silbernen Koffer muss Plutonium-239 stecken. Der Stoff, aus dem die Atombomben waren im zerfallenen Sowjet-Reich. Kurz vor 18 Uhr schlägt ein Geigerzähler bei einem Hartschalenbehälter an. Treffer. In kurzem Abstand erfolgen Festnahmen. Auf dem Flughafen einer der Passagiere aus Moskau, der Kolumbianer Torres Benitez. In einem Münchner Hotel werden zeitgleich die Spanier Julio Oroz Eguia und Javier Benguechea abgeführt. Das Trio ist des Nuklearschmuggels verdächtig.
Nervosität in der Bundeshauptstadt
30 Jahre ist das nun her. Illegaler Atomhandel war zu dieser Zeit ein hochbrisantes Thema in deutschen Sicherheitskreisen. Nervosität herrschte in der Bundeshauptstadt und bei den Landesbehörden. Große Mengen an Atomwaffen im früheren Warschauer Pakt verrotteten. Die Mauern um die Lager hatten Löcher. Sicherheitstüren blieben unverschlossen. Offiziere der russischen Nordmeerflotte plünderten ihre U-Boote und boten den entnommenen Kernbrennstoff gegen viel Geld in der Bundesrepublik an. „Kartoffeln werden besser bewacht“, stellte ein russischer Staatsanwalt zynisch fest.
1992 und 1993 wurden 109 Fälle von tatsächlichem oder versuchtem illegalen Transfer radioaktiven Materials aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ermittelt, im ersten Halbjahr 1994 schon weitere 90. Einige illegale Exporte wurden auf russischem Boden gestoppt. Anderes, 5,9 Gramm reines Plutonium, landete im Mai 1994 in der Garage eines mutmaßlichen Geldfälschers im baden-württembergischen Tengen. Im Juni in Landshut folgte die Sicherstellung von 800 Milligramm Uran. Bodensee und Bremen waren weitere Tatorte. Irgendjemand auf der Welt musste Kaufinteresse haben. Vielleicht um die eigene Atombombe zu bauen? Gefährlich, dass das alles mit Deutschland als Marktplatz passiert, fanden sie in Bonn. Zuständige beim BND fragten sich: Wie können wir auf die Spur kommen?
Festnahme am Gepäckband
München Airport, 10. August 1994, nach 18 Uhr. Die Festnahmen sind nicht ohne Pannen und diplomatische Peinlichkeiten abgelaufen. Zum einen ist laut Passagierliste auch Russlands Atomminister an Bord, auf Einladung der bayerischen Staatsregierung. Was tun? Die Polizei ist bald sicher, dass er nichts mit dem Transport im Laderaum der Boeing zu tun haben kann. Dann, bei der Festnahme des Kolumbianers Torres am Gepäckband, wird dessen verdächtiger Koffer versehentlich umgestoßen. Sofort wird die Stelle abgeriegelt, das Gepäckstück strahlensicher verpackt. Denn Plutonium ist nicht nur als tödliches Gift bekannt. Es ist auch radioaktiv. Wer damit in Berührung kommt, es gar einatmet, kann an Knochenkrebs erkranken und sterben.
Der Schnellcheck auf dem Flughafen ergibt: 363 Gramm kernwaffenfähiges Plutonium-239 stecken im Koffer. Die größte Menge, die bis dato im Westen sichergestellt wurde. Die Operation „Hades“, gestartet nach einem heißen Tipp, der dem BND über seine Vertretung in Madrid zugekommen ist, scheint ein voller Erfolg zu sein. So glauben es Bayerns Polizei, die Münchner Staatsanwaltschaft und der BND.
Der Fang ist überdies ein Vorgang von politischer Bedeutung. Kanzleramtschefs Bernd Schmidbauer, der die Geheimdienste beaufsichtigt, bricht seinen Urlaub ab und kehrt nach Bonn zurück. Auch er will den Fahndungserfolg feiern. Schmidbauer, Spitzname „008“, ahnt da noch nicht, was auf ihn zurollt. Die bundesdeutschen Ermittler geraten schnell ins Kreuzfeuer. „Ich fühle mich gejagt wie ein Karnickel“, wird Kohls Amtschef ein Jahr später sagen.
Denn: Opposition und Medien loben nicht etwa den verhinderten Nuklearschmuggel. Sie kritisieren vielmehr die direkten Gefährdungen im Umgang mit dem atomaren Material im Bauch der Boeing.
Der Informant „Roberto“
Ganze Regionen hätten bei einem Absturz verseucht werden können, wird gemeldet. Keine zehn Tage nach dem Coup von München müssen sich die Regierenden in Bonn und Bayern bohrenden Fragen stellen: Wenn Polizei und Nachrichtendienste, wie eingestanden, von der gefährlichen Fracht gewusst haben, wieso informierten sie dann nicht sofort die Lufthansa? Konnte der brisante Koffer nicht schon vor dem Start in Moskau beschlagnahmt werden? Wer waren die Kriminellen wirklich, die den Transfer des Koffers angeboten haben und schon Plutonium-Kunden in Deutschland an der Hand hatten?
Lufthansa-Vorstand und Bordpersonal sind wütend. Ein Konzernsprecher sagt: „Wir wollen nicht kommentieren, wie die Sicherheitsbehörden die Überzeugung gewonnen haben, dass zu keiner Zeit eine Gefahr bestanden hat“. Die Pilotengewerkschaft Cockpit erstattet Strafanzeige gegen die Bundesregierung. Im Bundestag kommt es zu einem Untersuchungsausschuss.
Während das Plutonium im Kernforschungszentrum Karlsruhe gesichert untergebracht wurde, arbeitete der Ausschuss zwischen 1995 und 1998 die Vorgänge auf. Dutzende Zeugen wurden vernommen. 1450 Seiten umfasste sein Report. Demnach begann alles in Madrid als Nebenprodukt einer Drogenabwehr des BND. Informant „Roberto“, dann „Rafa“, gaben erste Hinweise im Oktober 1993. Eine russische Staatsfirma Firma „Avia-Export“ aus Moskau habe Waffen und eben Nukleares angeboten habe, so die Nachricht.
Feilschen im Hotel
Frühjahr 1994: „Roberto“ meldet Namen. Am 18. Juli erfährt der Bundesnachrichtendienst, dass über die Informanten ein konkretes Angebot von Plutonium zur Übergabe in München vorliegt. 20. Juli: BND und Landeskriminalamt Bayern gehen zum Schein auf das Angebot ein. 22. Juli: Die Bayern übernehmen bei „Hades“ die Operationsführung und damit die Verantwortung. Der BND begleitet zudem alles.
25. Juli, ein entscheidender Tag: In einem Münchner Hotel wird mit den Anbietern um Gramm- und Kilo-Mengen gefeilscht. Die vermeintlichen Kaufinteressenten, tatsächlich LKA-Beamte, wollen möglichst viel Stoff und erhalten eine Probe von drei Gramm. Sie lassen sie auf Wert testen und verhandeln mit Vermittlern und Tätern über Preis und Transportweg.
Staatsminister Bernd Schmidbauer im Kanzleramt wird an diesem Tag informiert, er unterrichtet seinen Chef Helmut Kohl. Zwei Wochen später schlägt das bayerische LKA auf dem Franz-Josef-Strauß-Airport zu. Haben die staatlichen deutschen Stellen durchblicken lassen, dass sie mit einer erfolgreichen Fahndung dem Kanzler besonders gute Chancen für die anstehende Wahlen beschaffen wollten? So klingt es in Vernehmungen später durch. Auch: Die Vermittler könnten gedrängt worden sein, statt eines russischen lieber ein deutsches Flugzeug zu nutzen.
Mit Diplomatengepäck
Das zumindest ergab ein Gesprächsprotokoll, das 1996 bekannt wurde. Noch 2018 behauptete der russische Ex-Geheimdienstgeneral Alexandr Michailow, Moskau habe gewusst, dass es sich bei dem Plutonium-Handel um eine Einfädelung deutscher Dienste handelte. „Russland sollte an den Pranger gestellt werden.“
Deutsche staatliche Stellen haben solche Behauptungen immer zurückgewiesen. Im Schriftverkehr von Bundes- und Landesbehörden, der dem Ausschuss vorlag, gibt es an mehreren Stellen Hinweise auf die Hintermänner des illegalen Atom-Pakets: Torres, der am Flughafen verhaftet wurde, habe zuvor angekündigt, „mit einem Diplomatenkoffer zu kommen und zwar in Begleitung des russischen Ministers für Kernenergie“, der wegen seiner diplomatischen Immunität bei der Ausreise aus Moskau nicht kontrolliert werde. Der Minister werde auch das Geld für das Plutonium entgegennehmen.
Der BND zeigte sich überzeugt, dass das Plutonium „aus Sibirien stammt und im Verlauf von Prüfverfahren in der Ukraine unterschlagen wurde“. Eine russisch-ukrainische Gruppe habe alles organisiert. Der Operateur dahinter: „Ein aktiver russischer Geheimdienstgeneral“.
Der Plutonium-Fall gilt als einer der größten Polit-Skandale der jüngsten deutschen Geschichte. Die Bilanz, 30 Jahre danach: Die drei am 10. August 1994 Festgenommenen Torres, Oroz und Benguechea wurden zu mehreren Jahren Haft verurteil. Torres kam schnell wieder frei. Das Landgericht München sah in dem ganzen Vorgang „eine klassische polizeiliche Tatprovokation“ des bayerischen LKA und bestätigte damit Vorwürfe der Opposition im Bundestag, der deutsche Staat habe den Markt für Plutonium selbst geschaffen.
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