Essen. Immer neue Wirkstoffe und Produkte für Pflege kommen in die Regale. Selbst Jungen und Mädchen greifen zur Antifaltencreme. Experten warnen.
Maria schmiert sich hintereinander mehrere Gele, Lotionen und Cremes in ihr Gesicht. Noch etwas Highlighter und zum Schluss ein Sprüher Traubenkernwasser. Freudig kommentiert sie die tolle Wirkung, und 50.000 Follower folgen ihr dabei auf Instagram. Maria aus den USA ist nicht nur Influencerin, sondern „Skinfluencerin“. Nichts Ungewöhnliches soweit, bis auf die Tatsache, dass Maria höchstens zehn Jahre alt ist.
Jede Menge Gesichtspflegeprodukte zu besitzen und bereits im Grundschulalter zu benutzen ist ein Trend, den auch deutsche Mädchen erreicht hat. Doch leider landen so auch häufig Pflegeprodukte gegen Hautalterung auf den noch jungen Gesichtern. Eine Entwicklung, die Hautärzte mit Sorge beobachten: „Die Haut pflegt sich von innen heraus. Wenn sich Kinder mit junger, gesunder Haut mit Antifaltencremes zukleistern, dann reduziert das eher den Hautschutz“, sagt Dr. med. Claudia Jäger, Dermatologin in der ATOS Klinik Heidelberg. Kinder und Jugendliche, die zu viel pflegten, würden einen Prozess in Gang setzen, durch den sich die Haut nicht mehr selbst regulieren könne, so die Expertin.
Manche benutzen neun verschiedene Pflegeprodukte pro Tag
Aber auch bei den Erwachsenen boomt das Geschäft mit Schönheitspflege- und Anti-Aging-Hautprodukten. Allein in Deutschland wurden 2023 mit Kosmetik- und Körperpflegeprodukten 4,1 Milliarden Euro umgesetzt, ein Plus von 7,2 Prozent. Mit 12,3 Prozent wuchs der Umsatz im Bereich Gesichtspflege und -reinigung am stärksten (Industrieverband Körperpflege- und Waschmittel e. V.) Offensichtlich stehen diese Produkte neben der dekorativen Kosmetik ganz oben in der Gunst der Verbraucher. Die „European Consumer Perception Study 2022“ ermittelte für die Branche das Verbraucherverhalten. Im Zuge der Studie antworteten 72 Prozent der 6000 befragten Europäer, dass Kosmetik für sie im Alltag sehr wichtig sei. Junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren verwenden demnach mehr als 16 verschiedene Kosmetikprodukte pro Woche. Frauen sogar neun verschiedene pro Tag
Hyaluronsäure, Retinol oder Kollagenpeptide, Squalan, Ectoin oder Niacinamide – wer verstehen will, was heute die Hautalterung verlangsamen soll, braucht eine dermatologische Ausbildung. Der Hype um die schöne Haut bringt immer neue Trends und Wirkstoffe hervor: Chlorophyll mit antioxidativen Eigenschaften für mehr Hautelastizität, Mineralien, die nicht mehr gegessen werden, sondern direkt auf der Haut landen oder Erdbeerextrakte mit Vitamin C gegen Pigmentflecke und für ein ebenmäßigeres Hautbild. Das Angebot an Produkten wird immer größer.
„Die Industrie macht ja das, was die Verbraucher wollen, nicht zum Selbstzweck. Es gibt schon den Wunsch der Konsumenten nach immer wieder Neuem und zudem klare Verbraucherpräferenzen. Und darauf müssen sich die Hersteller einstellen“, erklärt Michael Sander, der mit seinem Unternehmen SanderStrothmann Kosmetik- und Körperpflegeprodukte für Marken entwickelt. Auch die Umstellung auf mehr natürliche und weniger tierische Inhaltsstoffe stelle die Branche vor eine gewaltige Herausforderung: „Es findet ganz allgemein eine Trendwende innerhalb der Rohstoffe statt. Vor 30 bis 40 Jahren mussten wir noch Plazentaextrakte oder tierische Proteine verwenden, heute kann man vieles biosynthetisch herstellen oder findet pflanzliche Alternativen. Bei Hyaluronsäure ist es ähnlich – früher wurde sie aus dem Hahnenkamm gewonnen, bevor man sie biotechnologisch herstellen konnte.“ Deshalb beobachtet er auch einen großen wissenschaftlichen Fortschritt: „Es gibt eine starke naturwissenschaftliche Forschung in der Branche. Und weil sie viel weniger reguliert ist als die Pharmazie, kann man Innovationen auch viel schneller auf den Markt bringen.“
Allergien und Reizungen als gefährliche Nebenwirkung
Stark reguliert aber sind auf EU-Ebene die Wirkstoffkonzentrationen. So wurde erst kürzlich die Höchstgrenze für Retinol, eine Form des Vitamin A, gesenkt. Retinol spielt eine wichtige Rolle bei der Zellerneuerung und der Kollagenproduktion, kann aber in höheren Konzentrationen auch zu Reizungen führen. Insbesondere in Verbindung mit UV-Licht. Um die Wirkstoffkonzentration zu erhöhen haben Skinfluencer oder Frauenmagazine auch deshalb den neuen Trend des „Layering“ ausgerufen – also das Auftragen von Wirkstoffen und Produkten in einer bestimmten Reihenfolge hintereinander. „Allerdings gewinnen in den sozialen Medien vermeintliche Profis mit Empfehlungen an Einfluss, die Dermatologen so nie geben würden“, warnt Jäger.
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Ohnehin sollte die Haut nicht überpflegt werden, denn zu viel Kosmetik kann die natürliche Schutzbarriere der Haut stören. Sie schützt eigentlich vor schädlichen Umwelteinflüssen und hält die Feuchtigkeit in der Haut. Eine wichtige Rolle spielt dabei das sogenannte Hautmikrobiom. Darunter versteht man alle Mikroorganismen, die im oder auf dem Körper leben. Für viele klingt das irritierend, aber Viren, Pilze und Bakterien gehören zur natürlichen Hautflora und sind Teil des Immunsystems. Gerät dieses physiologische Zusammenspiel aus dem Gleichgewicht, können Hautkrankheiten entstehen.
„Ob übermäßige Pflege oder ein zu großes Potpourri an Produkten – beides kann zu Allergien und Reizungen führen oder aber die Selbstregeneration beeinträchtigen“, so die Dermatologin. Das heißt im letzteren Fall, dass die Haut immer trockener wird, weil sie sich an die Zufuhr gewöhnt hat. Wer als junger Mensch diesen Kreislauf durchbrechen wolle, müsse mindestens drei bis vier Wochen komplett auf Pflegeprodukte verzichten. Danach, so Jäger, könne sich die Haut wieder selbst erneuern.
Weniger ist oft mehr bei der Hautpflege
Vor allem braucht jedes Alter und jedes Hauptproblem seine eigene Pflege: „Kinderhaut zum Beispiel außer Sonnenschutz und einem pH-neutralen Waschgel nichts. Gegen Akne-Haut helfen Produkte, die verstopfte Poren öffnen, nicht komedogen, aber antimikrobiell und entzündungshemmend sind. Da die Wirkstoffe nur auf neuer Haut wirken, benötigt es Zeit, bis sich der gewünschte Effekt einstellt. Und mit zunehmendem Alter wird die Haut dünner. Hier kann man mit Peelings die Hauterneuerung anregen, damit sie wieder dicker wird und damit ebenmäßiger und jünger aussieht.“ Im Kampf gegen die Hautalterung verweist die Heidelberger Hautärztin auf in Studien nachgewiesene Wirkstoffe, wie Q10, Retinol (Vitamin A), die Antioxidantien E, B und C sowie Hyaluronsäure. „Kollagen wirkt nur bedingt, weil es nicht in die untere Hautschicht eindringt.“
Generell gilt auch bei der Anwendung von Kosmetika wie in vielen anderen Lebenssituationen: Weniger ist oft mehr. Bei der Hautpflege kommt allerdings hinzu: Sonnenschutz ist ein Muss. „Dazu müssen keine Kosmetika aufgetragen werden, der Sonnenschutz einer guten Sonnencreme ist wirksamer als der der meisten Kosmetika“, sagt Jäger „Wer sich gut vor übermäßiger Sonneneinstrahlung schützt und dann noch ausreichend schläft, nicht raucht und sich gesund ernährt, tut schon jede Menge für eine schöne Haut.“
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