Essen. Tine und Sebastian sind ein Traumpaar. Doch nach einem Dreivierteljahr voller Schmetterlinge glaubt Sebastian, es sei Zeit, mit seiner Liebsten zu neuen sexuellen Ufern aufzubrechen. Was er nicht ahnt: Wo er hin will, da war Tine schon - egal, wohin sein Entdeckerdrang ihn treibt.

Tine und ich saßen mit zwei Tassen Cappuccino zusammen, vor dem Fenster zogen die Einkaufstüten vorüber. Tine rührte beständig und sprach so ausgedehnt über den Frühling, dass ich ungeduldig wurde. „Soll ja sogar noch wärmer werden“, bestätigte ich pflichtschuldig. „Und wie läuft’s so mit Sebastian?“ Fliegende Themenwechsel waren noch nie meine Stärke, aber einer von uns musste die Sache beschleunigen.

Etwas stimmt nicht

Sebastian. Seit einem Dreivierteljahr der Mann an Tines Seite, normalerweise Garant für leuchtende Blicke und Zukunftspläne. Mit ihm war Tine sesshaft geworden und es sah, soweit man das beurteilen konnte, nicht nach Ende aus. Doch irgendetwas war nicht in Ordnung mit unserem Traumpaar, soviel hörte ich aus ihrer beredten Vermeidung des Themas heraus.

„Oh, super“, sagte sie und räusperte sich. Dann rührte sie anders herum. Ich schwieg entschieden.

„Er ist so aufmerksam“, driftete sie ab. „Hab ich dir von der Sache mit dem Abendessen erzählt? Ja, oder?“ Ich nippte am Cappuccino. „Mm.“

„Und von dem Wochenendausflug neulich? Da hat er tatsächlich am Donnerstag…“ „Hast du erzählt“, bemerkte ich.

Verwegene Vanillekerzen

„Das war doch lieb, nicht?“ „Mhm.“ Komm zur Sache, dachte ich. Erzähl schon, was Sache ist. Es funktionierte: „Aber“, Tine atmete tief durch, „da ist noch was anderes.“ „Mhm?“ „Er würde gerne mal was Neues ausprobieren im Bett, glaube ich. Er hat Andeutungen gemacht und in der Videothek schaut er auch immer ganz versonnen.“

„Ja und?“, fragte ich verständnislos. Tine, ist, so viel weiß ich, an dieser Front durch nichts zu erschüttern. Sie hat gesehen und getan, was es so zu sehen und zu tun gab. Nur eben nicht mit Sebastian. Sebastian, für den Körperkontakt wahlweise auf dem Fußballplatz oder im Bett stattfand – und wenn, dann nach dem immerselben Muster. Licht aus, Kuschelrock-CD an, Frau hier, Mann dort. Variation an extrem verwegenen Abenden: Vanilleduftkerze.

Sebastian also, der vor Tine gerade von seiner Sandkastenliebe verlassen worden war, vermutete bei ihr mit größter Selbstverständlichkeit einen ähnlichen Erfahrungsrückstand und somit Nachholbedarf wie bei sich selbst. Bei Tine! Ich versteckte das Grinsen hinter der Porzellantasse und arbeitete an einem teilnahmsvollen Gesichtsausdruck.

Zusammen auf Entdeckungsreise?

„Und jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll“, jammerte Tine und nahm endlich einen Schluck ihres erkalteten Schaumgetränks, „es ist ja absehbar, dass selbst er bald mal über den Blümchensex hinaus will. Er meint, wir könnten da ja mal „zusammen was entdecken“. Soll ich jetzt so tun, als ob ich genau so wenig Plan hätte wie er? Oder ihm lieber sagen, dass er sich den Erotikshop sparen kann, weil mein Sortiment schon ganz ordentlich ist? Das ist doch beides Mist!“

Vorsichtig empfahl ich ihr, die Situation doch einfach auf sich zukommen zu lassen. Tine war gar nicht überzeugt. „Ach komm! Die staunende Unschuld vom Land kann ich auf Dauer nicht überzeugend spielen. Und das andere raubt ihm doch alle Illusionen. Was soll ich denn jetzt machen?“ In meinem Kopfkino surrte der Vorhang endgültig auseinander: Auf der geistigen Leinwand sah ich Tine und Sebastian. Tine, deren Ex-Freunde in großen Teilen die Bezeichnung nicht einmal verdienten, weil sie nie so weit gekommen waren, dass man sie so genannt hätte. Oder auch nur weit genug, dass Tine sie überhaupt irgendjemandem vorgestellt hätte. Tine, die sich praktisch schon durchs Kamasutra geprobt hatte, als andere Tanzkurse belegten, und die mehr Schlafzimmer-Utensilien besitzt als ein Profigolfer Eisen.

Schweigen mit Schuss

Und daneben Sebastian. Einen Mann aus erster Hand, der vermutlich immer weit zufriedener als neugierig war. Den ruhigen, immer furchtbar höflichen Sebastian, wie er in Boxershorts in ihrem Schlafzimmer steht und in einer betont unauffälligen grauen Tüte kramt. Dass er den Inhalt dieser Tüte eigenhändig ausgewählt und den Beutel durch die ganze Stadt getragen hat erfüllt ihn mit nicht ganz verborgenem Stolz. Als die geistige Kamera auf Tines Gesichtsausdruck schwenken will, kommt das Bild ruckelnd zum Stehen. Ich sehe das Problem.

Sollte sie die Seifenblase von Sebastians Illusionen mit wenigen Worten zum Platzen bringen oder ihn dauerhaft belügen? Im ersten Fall wäre ihm die schöne Überzeugung genommen, bei seiner Liebsten handle es sich um einen weiteren Amateur im Bett. Und im zweiten – theoretisch müsste sich Tines Informationsvorsprung ja beständig verkleinern bis er irgendwann keine Rolle mehr spielen würde. Oder?

Keine Ahnung. Tine bestellt sich noch ein Heißgetränk. Diesmal mit Schuss. Dann schweigen wir beide.

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