Essen. Der Vater arbeitet, die Mutter bleibt schön zu Hause und zieht die Kinder groß? Ist das unser Ernst? Wann endlich überwinden wir die Kita-Krise?

Manchmal kommt man sich als Journalist wie eine kaputte Schallplatte vor. Immer wieder berichten wir über bestimmte Missstände, mahnen in Kommentaren oder Kolumnen Verbesserungen an – doch so richtig viel tut sich nicht. Also berichten und kommentieren wir wieder. Und wieder. Und wieder. Auf dem Cover einer dieser kaputten Schallplatten steht: „Fehlende Kita-Plätze“. Wer im Archiv auf waz.de sucht, findet dazu eine Menge Einträge. „100.000 fehlende Kita-Plätze in NRW sind eine Katastrophe“, habe ich am 20. Oktober 2022 kommentiert. Einer unserer Landtagskorrespondenten, mein Kollege Matthias Korfmann, kam vor wenigen Tagen zu diesem ernüchternden Schluss: „Die Kita-Krise in NRW spitzt sich noch weiter zu.“ Es entstünden zwar beständig neue Plätze. Aber das reiche vorne und hinten nicht.

Das deckt sich mit zahlreichen Berichten aus unseren Lokalredaktionen. Beispiel Oberhausen: Für das kommende Kita-Jahr fehlen 279 Plätze für Kinder unter drei Jahren. Schon im vergangenen Jahr waren fast 1000 Eltern leer ausgegangen, die zum 1. August 2022 einen Betreuungsbedarf über das Verteilsystem „Little Bird“ angegeben hatten. 485 der betroffenen Kinder waren unter drei Jahre alt.

Frauen wollen und müssen arbeiten

Beispiel Herne: Insgesamt 9333 Kinder sind in Herne zum Kita-Jahr 2023/2024 im Kita-fähigen Alter. Auf sie kommen 5537 Kita-Plätze. Die Stadt geht davon aus, dass 40 Prozent der Eltern von unter Dreijährigen einen Platz beanspruchen. Das bedeutet: Mehr als 1000 Kinder würden keinen Betreuungsplatz bekommen. Das sind mehr als 1000 vertane Chancen – für die Kinder, für die Eltern, für die ganze Stadtgesellschaft. Ich habe daher eine Frage, die sich so oder abgewandelt in jeder Klartext-Kolumne finden lässt, auch in diesem Zusammenhang schon mehr als einmal gestellt: Haben wir eigentlich noch alle Tassen im Schrank?

Machen wir uns eigentlich ausreichend klar, welche Schäden aus der Kita-Krise erwachsen? Und welche Folgekosten daraus resultieren, dass die Politik nicht imstande ist, endlich genug Geld in die Hand zu nehmen? Es geht schon lange nicht mehr „nur“ darum, dass sich Frauen „selbstverwirklichen“ wollen und dafür eine verlässliche Kinderbetreuung notwendig ist. Viele Familien kommen finanziell gar nicht über die Runden, wenn nicht beide Partner arbeiten gehen. Die Inflation hat das noch massiv verschärft. Zudem sind die Unternehmen mehr denn je darauf angewiesen, weibliche Fachkräfte zu gewinnen und zu halten.

Kita-Pflicht wäre sinnvoll

Hinzu kommt noch ein anderer Aspekt: Kitas sind, wenn es gut läuft, Orte der vorschulischen Bildung und der Integration. Gerade Kinder aus bildungsfernen und migrantischen Milieus sind auf eine frühe außerfamiliäre Förderung dringend angewiesen. Sprache, Kognition, Motorik: Gut betreute Kita-Kinder erwerben hier Fähigkeiten fürs ganze Leben. Im Grunde, und das meine ich ganz ernsthaft, müsste es analog zur Schulpflicht eine Kita-Pflicht geben, wenn die Forderung angesichts fehlender Plätze nicht so absurd klingen würde.

Beispiel Bochum, ganz konkret: Als Zayd ein Jahr alt ist, meldet sein Vater ihn im Bochumer Kita-Portal an. Eigentlich hoffen die Eltern auf einen Betreuungsplatz ab Zayds zweitem Geburtstag, doch die Zusage bleibt aus. Der Vater ist als Ingenieur voll berufstätig, die Mutter müsste eigentlich seit August 2022 einen Integrationskurs machen – doch das geht nicht, weil sie den Sohn betreut. Erst als die Eltern der Stadt mit einer Klage drohen, erhalten sie den begehrten Platz. Zayd ist inzwischen vier Jahre alt. Die wertvolle Zeit dazwischen – sie ist verloren.

Ruhrgebiet besonders betroffen

Ausgerechnet Kinder aus armen und weniger gebildeten Familien sind bei der Vergabe von Kita-Plätzen benachteiligt, wie eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zeigt. Der Studie zufolge wurde 2020 nur jedes vierte Kind aus finanziell prekären Milieus betreut, aber fast jedes zweite Kind aus saturierten Verhältnissen. 38 Prozent der deutschsprachigen Kinder besuchten eine Kita, aber nur 24 Prozent der Kinder, die kein Deutsch sprechen. Regionen wie das Ruhrgebiet trifft das in besonderem Maße.

Und selbst wenn Kinder einen Kita-Platz haben, ist nicht unbedingt alles gut. Überall fehlt es an Erzieherinnen und Erziehern. Größere Gruppen bedeuten weniger Betreuung; im schlimmsten Fall werden die Kinder nur noch möglichst unfallfrei verwahrt. Sogar dazu reicht es nicht immer. Nicht wenige Eltern können ein Lied davon singen, was es bedeutet, wenn die Kita plötzlich die Öffnungszeiten verringert. Dann ist Holland in Not.

Wo also ist das Sondervermögen „Familie“? Warum tut eine „Fortschrittskoalition“ in Berlin nicht genug? Warum versagt eine Koalition in Düsseldorf, die einen „Zukunftsvertrag“ für Nordrhein-Westfalen entworfen hat? Warum lassen sie allesamt die überforderten Kommunen mit einem Rechtsanspruch für Eltern allein, der nie und nimmer eingelöst werden kann? Es wird ja ständig gebaut, in Essen, in Duisburg, in Witten, überall. Aber es dauert. Und es reicht nicht. Das Geld reicht nicht.

Gute-Kita-Gesetz? Hahaha

Der Velberter Stadt-Dezernent Gerno Böll verwies vor ein paar Tagen im Gespräch mit unserem Reporter vor Ort auf die massiv gestiegenen Baukosten: Früher habe man mit rund drei Millionen Euro für eine neue Kita kalkuliert, rechnete er vor, mittlerweile seien es sechs Millionen. SPD und FDP in NRW drängen deshalb darauf, dass das Land den Trägern von Kitas mehr Geld fürs Bauen zur Verfügung stellt. Doch die Zuschüsse des Landes bleiben seit Jahren konstant. Muss man sich da wundern, wenn landesweit im kommenden Jahr nur 8822 Plätze neu entstehen – so wenig wie seit elf Jahren nicht, wie die Opposition kritisiert?

5,5 Milliarden Euro hat der Bund im Rahmen seines „Gute-Kita-Gesetzes“ den Ländern von 2019 bis 2022 zur Verfügung gestellt. 3,9 Milliarden Euro ist das Nachfolgeprogramm der Ampel wert. Es heißt jetzt „Kita-Qualitätsgesetz“. Ein Euphemismus jagt den nächsten, aber immerhin ist die Ampel dabei nicht ganz so plump wie die Groko. Was soll man sagen? Es waren und sind nur Tropfen auf dem heißen Stein. Zudem behindert der Föderalismus mal wieder ein einheitliches, geordnet-strategisches Vorgehen. Bundesweit geregelte Ausbildungsstandards für Quereinsteiger in den Erziehungsberuf etwa gibt es nicht. Dabei brauchen wir solche Leute dringendst.

Die kaputte Schallplatte, sie spielt und leiert ihr ewig gleiches Lied. Aber sie stoppt nicht. Wir machen weiter, bis die Kitas, nun ja, „gut“ sind.

Auf bald.