Essen. Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Pustekuchen! 100.000 Mütter und Väter in NRW gucken in die Röhre. Und was tut unsere Landesregierung?

Vorne steht die Lehrerin, ich sitze auf der Schulbank und will gerade anfangen, mit dem Stuhl zu kippeln, wie ich es damals immer getan habe. In der Erinnerung verklärt sich ja viel; aber wie peinlich es war, wenn ich dann mitten im Unterricht krachend nach hinten fiel, habe ich nicht vergessen. Ich höre also auf zu kippeln und höre brav zu. Meine Frau und ich sind in einem Gymnasium zum Elterncafe eingeladen. Unser kleiner Großer (oder großer Kleiner?) wird im kommenden Jahr in die weiterführende Schule kommen. Wir sprechen über gymnasiale Eignung, Fremdsprachen-AGs und – eine für mich entscheidende Frage – die Hausaufgabenbetreuung am Nachmittag. „Wann schicken Sie die Kinder denn nach Hause?“, will ich wissen. „Spätestens um 15 Uhr“, sagt die Lehrerin. Spätestens um 15 Uhr?

Um 15 Uhr ist Schluss mit lustig

Willkommen in Deutschland im Jahre 2022. Noch immer sind die Bildungs- und Familienpolitiker offenbar nicht darauf gekommen, dass eine Kinderbetreuung bis 15 Uhr in aller Regel nicht ausreicht, wenn Vater und Mutter in Vollzeit arbeiten wollen bzw. in Anbetracht der explodierenden Preise vielleicht auch müssen. In der Grundschule ging der „Offene Ganztag“ immerhin bis 16 Uhr, was knapp ist. 15 Uhr bedeutet, dass man seinem gerade zehnjährigen Kind vertrauen und einen Schlüssel in die Hand drücken muss. Es wird dann erst einmal allein sein, wenn es nachmittags nach Hause kommt. Kann man machen, finde ich, aber ich hätte das gerne frei entschieden. Ein Schulsystem allerdings, in dem eine Ganztagsbetreuung nicht gewährleistet ist, nimmt einem die Entscheidung ab.

Ein Drama ist das sicher nicht. Was aber ist mit den ganz Kleinen, mit den Kindern im Kita-Alter? Ohne verlässliche Betreuung, die Corona-Hochphase lässt grüßen, ist es auf Dauer undenkbar, dass beide Elternteile arbeiten gehen. Mehr als 100.000 Kita-Plätze werden allein in NRW im kommenden Jahr einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge fehlen. Das sind 100.000 kleine Bildungs- und Betreuungskatastrophen.

Nicht einmal ein Wümmschen

Bazooka, Zeitenwende und Doppel-Wumms: Die Milliarden fliegen uns nur so um die Ohren, wenn es offensichtlich darauf ankommt. Das ist auch richtig so. Nicht akzeptabel aber ist, dass für unsere Gesellschaft existenzielle Missstände, die nicht ganz so offensichtlich sind, von der Politik eher achselzuckend hingenommen werden. Um es klar zu sagen: Der seit 2013 in Deutschland geltende Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz vom ersten vollendeten Lebensjahr des Kindes an ist eine Farce. Wer eigentlich soll sich noch an Recht und Gesetz halten, wenn es der Staat in so einer zentralen Frage selbst nicht tut?

Es ist nun bald 25 Jahre her, dass ein gewisser Bundeskanzler Gerhard Schröder Familienpolitik als „Gedöns“ abgetan hat. Damals haben manche laut darüber gelacht, und noch mehr haben Schröder still und heimlich zugestimmt. Man sollte meinen, dass wir heute viel weiter sind. Die berühmte „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ ist inzwischen so oft beschworen worden, dass es niemanden verwundern würde, wenn der Duden daraus längst ein Wort, einen festen Begriff gemacht hätte:

Vereinbarkeitvonfamilieundberuf, die.

Und wo stehen wir jetzt? Was haben uns die schönen Sonntagsreden, die Wahlprogramme, die Versprechungen gebracht?

Schon wieder Schlusslicht Gelsenkirchen

Besonders mies ist die Situation im Ruhrgebiet und anderen strukturell benachteiligten Regionen. Wenn es so etwas wie den geborenen Träger der roten Laterne gibt, dann ist es leider immer und immer wieder Gelsenkirchen. Bei der Betreuung von U3-Kindern belegt die Stadt im NRW-weiten Vergleich mit 18,1 Prozent (Stichtag: 1. März) den letzten Platz hinter Duisburg (18,4 Prozent), Hagen (21,2 Prozent), Wuppertal (22,1 Prozent) und Herne (24 Prozent). Nicht einmal jedes fünfte Kind unter drei Jahren also besucht in Gelsenkirchen eine Kita.

Was sind das nur für vertane Chancen! Da, wo die Arbeitslosenquote hoch und die Bildungsmöglichkeiten unterbelichtet sind – da müssen wir Gas geben. Unser einziges Kapital als Wirtschaftsmacht, so wir denn in einigen Jahren noch eine sind, sind die Menschen, die bei uns leben. In sie müssen wir investieren.

Haben wir noch alle Tassen im Schrank, dieses Potenzial nicht zu nutzen? Haben wir noch alle Tassen im Schrank, dass wir Kinder nicht so früh wie möglich aus prekären Verhältnissen herausholen und fördern? Haben wir noch alle Tassen im Schrank, dass wir Frauen in die Teilzeit oder sogar komplett an den heimischen Herd zwingen, statt dass sie dabei helfen können, den Fachkräftemangel zu überwinden und unseren Wohlstand zu sichern?

Wirtschaftskrise verschärft die Lage

Zu allem Überfluss verschärft die Wirtschaftskrise die Situation noch, wie sich am Beispiel Essen zeigen lässt. Preissteigerungen und Lieferengpässe im Baubereich sorgen hier exemplarisch für spürbare Verzögerungen beim Ausbau der Kindertagesstätten. Deshalb können nach Angaben der Stadt Essen für das Kita-Jahr 2022/2023 voraussichtlich nur 561 neue Kita-Plätze geschaffen werden. Geplant waren 1111.

Dabei stellt der Mangel an Kita-Plätzen nur die Spitze des Eisbergs dar. Eltern mit Berufen, die nicht um 8 Uhr beginnen und um 16 Uhr enden, finden nur schwer Angebote für „Randzeiten“. Schon der längere Pendelweg, der sich pro Tag auf mehr als eine Stunde summiert, kann im Hinblick auf eine sichere Betreuung der Kinder tödlich sein.

Kita- und Essens-Gebühren zu hoch

Hinzu kommen die Kosten. In manchen Kommunen, den ärmeren meist, sind die Kita-Gebühren so hoch, dass sich Ehepaare ernsthaft fragen müssen, ob sich der Job des Weniger-Verdieners überhaupt noch lohnt. Meist trifft das die Frauen, was unter dem Aspekt Gleichberechtigung gleich die nächste gesellschaftliche Katastrophe in der Katastrophe darstellt. Und wenn man für das Mittagessen in der Grundschule für zwei Kinder ernsthaft knapp 1500 Euro pro Jahr berappen muss – das ist unter Umständen das Monats-Nettoeinkommen einer Krankenschwester –, dann ist etwas faul im Staate Dänemark (wobei der Spruch gerade hier nicht trifft, weil in Dänemark in vorbildlicher Weise drei von vier Müttern in Vollzeit arbeiten und das dort kein Problem darstellt).

Was nun tut die schwarz-grüne NRW-Landesregierung? Erstmal nichts. Wann Eltern bei den Kita-Beiträgen und bei den Verpflegungskosten endlich entlastet werden, steht in den Sternen, obwohl entsprechende Entlastungen im Koalitionsvertrag vereinbart wurden. NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne) gab im Landtag zu Protokoll, dass die Frage der Entlastung derzeit „intensiv geprüft“ werde.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann prüfen sie noch heute ...

Homeoffice hilft nur bedingt

Ja, sicher, die neuen Möglichkeiten des Homeoffice helfen dabei, Kinder zu betreuen. Sie ersetzen aber Kita-Plätze nicht, denn (kleine) Kinder und konzentriertes Arbeiten unter einem Dach schließen sich meist gegenseitig aus. Außerdem hilft Homeoffice jenen Berufsgruppen nicht, die mit Büro-Arbeit wenig bis gar nichts zu tun haben, deren Präsenz also erforderlich ist. Die oben genannte Krankenschwester ist ein typisches Beispiel dafür.

Es ist nun an NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, gerne mit Doppel- und Dreifach-Wumms aus der Misere herauszuführen. Es reicht nicht, intensiv zu prüfen und ansonsten nur mit dem Finger auf Berlin zu zeigen. Die Hausaufgaben müssen in Düsseldorf gemacht werden. Jetzt.

Auf bald.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

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