Essen. Immer mehr Menschen protestieren gegen die AfD. 100.000 waren es am Samstag allein in Düsseldorf. Doch manche haben nichts gelernt.

Auf die Kommentatoren konservativer Medien wie der von mir durchaus respektierten „Welt“ und der stets alles besser wissenden „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) kann man sich verlassen wie auf die Präzision einer Atomuhr. Sie fabulieren von einem „brachialen Anti-AfD-Furor“, gar von „geschichtsvergessener Überspanntheit“. Demonstrierende, die vor den Parallelen zum Untergang der Weimarer Republik warnten, seien „Entrückte“ und „Nervenbündel“. Damit beleidigen sie Zehntausende im Ruhrgebiet, hunderttausend Menschen, die am Samstag allein in Düsseldorf für die Demokratie und gegen Faschismus demonstriert haben, inzwischen weit mehr als eine Million Menschen bundesweit.

Purerer AfD-Sprech

„Welt“-Chefkommentator Jacques Schuster hält es ausdrücklich für hysterisch, wenn man AfD-Politiker als Nazis und Faschisten bezeichnet, und stellt in diesem Zusammenhang eine rhetorische Frage, wie ich sie selbst regelmäßig seit nunmehr 95 Klartext-Kolumnen so oder in abgewandelter Form formuliere: „Haben die Deutschen noch alle Tassen im Schrank?“ Und NZZ-Kollege Alexander Kissler kritisiert jene Medien dafür, dass sie – wie die WAZ – berichten, wann und wo welche Demo geplant ist; anschließend würden sie „preisen“, was sie selbst „orchestriert“ hätten. Was für ein Quatsch!

Vielleicht sollten Schuster und Kissler mal einen Blick in ihre eigenen Schränke werfen.

Nein, es ist nicht das Verdienst der WAZ, dass Essen zu den ersten Städten in Deutschland gehörte, in der tausende Menschen auf die Straße gegangen sind. Kurz danach kam bundesweit eine Dynamik in Gang, nicht weil Medien etwas „orchestriert“ hätten, sondern weil immer mehr mündige Bürgerinnen und Bürger aus der Mitte der Gesellschaft das Gefühl hatten und haben, jetzt nicht auf dem Sofa sitzen bleiben zu dürfen.

Wir können stolz sein

Am vorvergangenen Freitag gingen rund 13.000 Menschen allein in Bochum auf die Straße, am Samstag darauf in Dortmund 30.000, in Bottrop 2500, in Gladbeck 1000, am vergangenen Sonntag in Mülheim 7000, jetzt am Mittwoch 5000 in Oberhausen, an diesem Samstag 6500 in Gelsenkirchen. Weitere Protestmärsche sind geplant. Und selbstverständlich organisieren Medien wie die WAZ solche Märsche nicht. Aber sie berichten darüber, weil es ihre Aufgabe ist, und ich erlaube mir in einem journalistischen Meinungsangebot wie dieser Kolumne, die Demonstrationen gut zu finden. 

Mehr noch: Ich bin stolz darauf, Teil einer Gesellschaft zu sein, die nun das glatte Gegenteil von Geschichtsvergessenheit an den Tag legt, die offenbar hellwach ist, wenn es darauf ankommt. Ich bin sehr positiv überrascht, wer so alles auf die Straße geht. Ob 2024 politisch doch nicht so düster wird, wie ich es hier an dieser Stelle kurz vor dem Jahreswechsel prognostiziert hatte?

Widerliche Deportationspläne

Die heutigen Parallelen zu dem, was vor drei Generationen passierte, sind frappierend. Damals wie heute wurden die Nazis nicht ernst genommen, wurde die schleichende Gefahr als solche zunächst nicht erkannt. Die Deportationspläne des „Geheimtreffens von Potsdam“ erinnern an die Wannseekonferenz von 1942, wo mit deutscher Gründlichkeit der Holocaust organisiert wurde. Es ist jene deutsche Gründlichkeit, auf die sich der AfD-Vorsitzende von Thüringen, Björn Höcke, beruft, wenn er die „Wendezeit“ in seinem Sinne beschwört: „Dann machen wir Deutschen keine halben Sachen, dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt.“ Der Mann bemüht sich nicht einmal mehr, so etwas wie biedere Bürgerlichkeit vorzugaukeln. Er ist in schauderhaftester Weise schlicht: er selbst.

Muss man da wirklich noch differenzieren in schlimme und nicht so schlimme AfD-Politiker, schlimme und nicht so schlimme AfD-Wähler? Die Partei hat sich stufenweise radikalisiert, und sie tut es noch. Sie ist ein Sammelbecken für Nazis aller Art. Und Höcke ist der Obernazi. Er gibt längst den Ton an in der AfD. Ihm kann inzwischen egal sein, wer unter ihm Bundesvorsitzender ist. Darum wiederhole ich das, was ich schon einmal geschrieben habe: Wer kein Nazi ist, wählt keine Nazis. Punkt.

Wehrhafte Demokratie gefordert

Vielleicht wachen nun mit den demonstrierenden Bürgerinnen und Bürgern endlich auch die Spitzen der demokratischen Parteien auf und nutzen die Möglichkeiten dessen, was unsere Verfassungsmütter und -väter unter einer „wehrhaften Demokratie“ verstanden haben. Dazu gehört ein Parteiverbotsverfahren. NRW könnte hier voranschreiten, lieber Innenminister Reul, zumal auch Ihr Ministerpräsident die AfD ausdrücklich für eine Nazi-Partei hält. Handeln Sie jetzt!

Unser Schwerpunkt zum „Kampf um die Demokratie“

Und bitte werfen Sie mit den Verfassungsschutz-Experten der anderen demokratischen Parteien mal einen genaueren Blick auf die Frage, wie gut oder schlecht die Gewaltenteilung in Deutschland, das Fundament jeder Demokratie, geschützt ist. Das erstaunliche Ergebnis ist: Wenn es eine einfache Regierungsmehrheit im Bund darauf anlegt, könnte sie das Bundesverfassungsgericht matt setzen. Wie das geht?

Angriff aufs Bundesverfassungsgericht?

Im Grundgesetz ist nur geregelt, dass die Richterinnen und Richter des höchsten deutschen Gerichts je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden. Mit einem einfachen Gesetz aber könnten neue Richterposten geschaffen und besetzt werden. Man könnte das Gericht zwingen, alle Entscheidungen zu begründen, so dass es aufgrund fehlender Ressourcen handlungsunfähig würde. 

Man schaue nur nach Polen oder Israel. Der Weg zur Autokratie führt über die Entmachtung beziehungsweise Gleichschaltung der Justiz. Da fällt kein Schuss, fliegen keine Steine. Die Sonne geht ganz langsam und lautlos unter, und plötzlich ist es finster. Es wäre an der Zeit, die heutigen Regeln zum Bundesverfassungsgericht im Grundgesetz festzuschreiben, mit Zwei-Drittel-Mehrheit. Noch bringen die Demokraten diese auf.

Wir demonstrieren weiter!

Bis dahin demonstrieren wir weiter, ich auch. Der alte Satz von Journalisten-Legende Hanns Joachim Friedrich, ein Journalist solle sich mit keiner Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten, sollte nicht absolut gesetzt werden. Denn die Demokratie ist nicht nur irgendeine „gute Sache“, sondern bildet ja die Grundlage für unabhängigen Journalismus. Und, umgekehrt, ohne unabhängigen Journalismus funktioniert keine Demokratie. Nennen wir es also „wehrhafte Pressefreiheit“, wenn sich Journalisten mit vielen anderen Menschen den Feinden der Freiheit entgegenstellen.

Solidarität, Toleranz und Klarheit: Es ist kein Zufall, dass diese Tugenden im Ruhrgebiet einen besonders hohen Stellenwert haben. Die soziale Ungleichheit in unserer Region bietet viel Sprengstoff; der Strukturwandel verlief und verläuft alles andere als glatt; die Probleme mit ungeregelter Migration und gescheiterter Integration sind nicht von der Hand zu weisen. Aber wenn es darauf ankommt, können wir uns in bergmännischer Tradition aufeinander verlassen. Bleiben wir zusammen im Kampf gegen rechts.

Glück auf!

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