Essen. Wer wenig erwartet, kann nicht enttäuscht werden: Nach Pandemie und Kriegen gerät im nächsten Jahr unsere Demokratie in Gefahr.
Sprechen wir noch einmal nüchternen Klartext, bevor die Sektkorken knallen: Die 20er Jahre dieses Jahrhunderts waren Jahre zum Vergessen. Auch ist es keine schlechte Nachricht, dass dieses Jahr zu Ende geht. Krisen verschiedenster Art haben wir immer wieder mal erlebt. Aber die Probleme, mit denen wir in den Jahren 2020, 2021, 2022 und 2023 konfrontiert waren, sind existenzieller, hartnäckiger, nachhaltiger. Sie überlappen sich und überfordern uns durch ihre Gleichzeitigkeit. Erst die Pandemie, dann der Krieg in Europa, jetzt noch der eskalierende Nahost-Konflikt. Die Welt ist und bleibt aus den Fugen. Und 2024 wird es mutmaßlich nicht besser. Ist der Neujahrskater erst einmal überwunden, schauen wir in alte und neue Abgründe.
Sie wollen nicht weiterlesen? Sie lechzen nach guten Nachrichten, nach optimistischen Vorhersagen? Das ist Ihr gutes Recht. Ich wünsche Ihnen einen guten Rutsch! Auf bald.
Sie wollen weiterlesen? Sie gehören nicht zu denen, die den Kopf in den Sand stecken, wenn es um Sie herum brennt? Dann müssen wir uns, einmal mehr an dieser Stelle, eine Bedrohung unserer Freiheit vor Augen halten, wie wir sie seit Bestehen der Bundesrepublik noch nicht erlebt haben.
Landtagswahlen im Osten
Im September finden in Sachsen, Thüringen und Brandenburg Landtagswahlen statt, und zum ersten Mal könnte eine Partei siegen, die zu großen Teilen nicht auf dem Boden unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung steht. Die politische Explosion, die das auslösen würde, wäre weit über Deutschland hinaus zu hören. Sie würde nicht nur unseren Staat destabilisieren, sondern ganz Europa erschüttern.
Dazu passend, nur einige Wochen später, finden in den USA Präsidentschaftswahlen statt. Die Wahrscheinlichkeit wächst von Tag zu Tag, dass es wieder zu einer Auseinandersetzung zwischen dem greisen Joe Biden und dem rechtspopulistischen Donald Trump kommt. Gewinnt Trump, ist das eine weitere Niederlage für die Demokratie und eine Schwächung der westlichen Staatengemeinschaft, auf die die Diktatoren in Moskau und Peking nur gewartet haben. Gerade für den Fall wäre es umso wichtiger, dass Deutschland ein Fels in der Brandung ist und bleibt.
Wäre, wäre, Fahrradkette.
Wie schlecht ist die Ampel?
Leider ist die Politik der Ampel derzeit nicht gut genug, um den Zulauf zu den Populisten und Rechtsextremisten hierzulande zu stoppen. Und noch schlimmer als die tatsächliche Politik ist die Wahrnehmung derselben. Wer spricht noch darüber, dass es die Ampel und der in Teilen der Gesellschaft regelrecht verhasste Wirtschaftsminister war, der uns sicher durch die von den Russen verursachte Energiekrise geführt hat? Wer würdigt noch, dass es wohl auch der Besonnenheit eines ansonsten als regungs- und empathielos verschrienen Bundeskanzlers zu verdanken ist, dass Deutschland und die Nato bis heute nicht aktive Kriegspartei gegen Russland sind?
Ja, das Heizungsgesetz hätte man nicht schlimmer in den Sand setzen können. Hier wurde Vertrauen unwiderruflich zerstört. Aber dass unser Bildungs- und Kinderbetreuungs-System Käse ist, dass wir in Sachen Digitalisierung hinter dem Mond leben, dass unsere Infrastruktur, unsere Brücken zum Beispiel, Schrott ist – niemand weiß das besser als wir im Ruhrgebiet –, dafür kann diese Bundesregierung nichts. Das alles hat sie, zunächst einmal, geerbt. „Danke, Merkel!“, hätte ich jetzt fast geschrieben. Aber das wäre unfair. Teilweise zumindest.
It´s the economy, stupid!
Wasser auf die Mühlen der AfD dürfte auch die weitere wirtschaftliche Entwicklung sein. Zwar sinkt die Inflation, der Wohlstandsvernichter Nummer eins, und die damit verbundenen Reallöhne steigen wieder. Aber wenn das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft nicht falsch liegt, dann könnte auf Deutschland 2024 ein weiteres Rezessionsjahr zukommen, bedeutet: die Wirtschaft schrumpft. „It’s the economy, stupid!“ (Es kommt auf die Wirtschaft an, Dummkopf!), hieß es schon 1992 im Wahlkampfteam Bill Clintons: Eine gute Konjunktur führt zu guten Wiederwahlchancen der amtierenden Regierung, eine schlechte hilft dagegen in der Regel der Opposition.
Opposition – das ist neben der AfD ja auch noch die gute alte CDU. Wenn die Ampel versagt, könnte eine christdemokratische, konservative, pro-europäische Partei die Rettung sein. Es ist wie im Fußball: Wenn der Gegner schlecht spielt, muss man nur noch eigene Fehler vermeiden, um zu gewinnen. Schade nur ist, dass Friedrich Merz als CDU-Vorsitzender darauf programmiert ist, Fehler zu machen. Ukrainische Flüchtlinge nennt er Sozialtouristen, arabischstämmige Kinder „kleine Paschas“. Migranten nehmen Merz zufolge Deutschen die Termine beim Zahnarzt weg, und seine Partei sei die „Alternative für Deutschland mit Substanz“. Da entscheiden sich die Einen lieber fürs Original, während die Anderen in keiner der Alternativen eine Alternative sehen – und lieber gar nicht wählen.
Da lobt man sich einen Hendrik Wüst. Der macht keine Fehler. Der ist die Fehlerlosigkeit in Person. Der NRW-Ministerpräsident wird, gerade weil ihm die Konturen fehlen, weil er – außer Merz vielleicht – niemandem weh tut, damit zu einem Hoffnungsträger für Deutschland, zu einer echten Alternative für die Ampel. Den müsste die AfD eher fürchten als Friedrich Merz. Ich glaube insofern nicht, dass die Kanzlerkandidatur in der Union schon zugunsten von Merz entschieden ist, wie Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer gerade in einem FUNKE-Interview gesagt hat. Spätestens nach den verlorenen Landtagswahlen im Osten schlägt Wüsts Stunde.
Das gute Geschirr!
So oder so gilt: In einer Demokratie bekommt das Volk die Regierung, die es verdient, auch dann, wenn diese Regierung die Demokratie dann abschaffen und das Volk entmündigen will. Das gilt für die USA, das gilt auch für Deutschland. Hoffentlich behalten wir dies- und jenseits des Atlantiks die Tassen im Schrank.
Frohes neues Jahr und auf bald.
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