Witten. Marlies Grote (84) und Angelika Geppert (74) hören nach 47 Jahren in der Bücherei in Annen auf. Was hat sie angetrieben – und wie geht es weiter?
An der neugotischen Backsteinkirche vorbei, hinunter in den unscheinbaren Raum: Dort warten Marlies Grote (84) und Angelika Geppert (74). Die Schwestern sind Urgesteine der katholisch-öffentlichen Bücherei St. Joseph im Wittener Stadtteil Annen, kurz KÖB. Seit 1977 arbeiteten sie dort ehrenamtlich. Nun sind sie im Ruhestand. Zwischen Krimis und Reisebüchern blicken die Schwestern auf die letzten 47 Jahre zurück.
„Wir waren schon immer Leseratten und haben alles querbeet gelesen“, erzählt Marlies Grote in der Pfarrbücherei, die seit 1898 existiert. Schon als Kinder stillten sie dort ihren Hunger nach Literatur. Eines Tages wurde Grote gefragt, ob sie mithelfen wolle. „Ich habe den Eindruck erweckt, dass ich interessiert bin“, erinnert sie sich schmunzelnd. Kurz darauf folgte ihre Schwester Angelika Geppert. Ihre Leidenschaft kam ihnen zugute: „Wenn man Bücher vermittelt, sollte man sie kennen.“
Selbst in der Corona-Zeit gab es einen Notdienst in der Bücherei
Lesen sei für sie die Möglichkeit, fremde Welten und Schicksale zu entdecken. Menschen in den Gemeinden kostenlos Literatur zugänglich zu machen, darauf basiere die Idee öffentlicher Pfarrbüchereien. Das wurde gut angenommen. „Nach den Messen standen die Menschen traubenweise Schlange vor der Theke“, erinnert sich Grote. Selbst während Corona hielten sie mit einem Notdienst die Bücherei offen. „Wir wollten unbedingt den Kontakt halten.“
Die Schwestern boten mehr als Ausleihe: Sie wählten Bücher aus, organisierten Büchertrödel, Ausstellungen, Literaturkreise, Kulturabende und Projekte mit Kindergärten. „Nach der Schule kamen zehn bis zwölf Kinder, wir haben zusammen gelesen und gespielt“, erinnert sich Grote. Mit dem Programm „Bibfit“ führten sie Vorschulkinder an Büchereien und Lesen heran.
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„Die Stunden haben wir nie gezählt“, so die Schwestern. Nebenbei führten sie ein „normales Leben mit Familie, Haus und Garten“. Marlies Grote engagierte sich zudem als Lektorin und in der Kleiderkammer der Kirche. „Wir kommen aus einer anderen Zeit. Mein Bestreben war es, für meine Kinder da zu sein, später für meine Enkelkinder und auch für meine Eltern, bis sie gestorben sind.“ Grote ist 1940 geboren und in der Nachkriegszeit großgeworden. „Wir mussten immer helfen und aufeinander Acht geben.“
Tonie-Figuren ersetzen Kassetten
Auch die Bücherei brachte die Schwestern näher zueinander. „Die Chemie stimmt zwischen uns, und man versteht sich ohne Worte“, sagt Geppert. Gemeinsam erlebten sie den Wandel der KÖB: Als Grote 1983 die Leitung übernahm, begann alles in einem kleinen Raum mit 100 Büchern. Heute sind es drei Räume, insgesamt ist die Fläche mehr als doppelt so groß und umfasst rund 5000 Medien.
Die Schwestern waren Innovatorinnen ihrer Zeit und brachten neue Medien in den Bestand. Nach Kassetten kamen erst CDs und DVDs in die Regale. Längst wurden sie ersetzt durch Tonie-Figuren, die Hörboxen für Kinder. Zudem gibt es Zeitungen, Spiele, Filme. „Eine Bücherei muss mit der Zeit gehen und darauf reagieren, was die Gesellschaft macht und die Menschen interessiert“, sagt Grote. „Wir haben mit Handzetteln und Karteien angefangen.“ Gemeinsam führten sie die KÖB in das Zeitalter der Digitalisierung.
„Wir leben nicht allein, sondern in einer Gemeinschaft, die Hilfe und Zuwendung braucht.“
„Es ist wichtig, sich für andere einzusetzen“, betont Geppert. Die ältere Schwester ergänzt: „Wir leben nicht allein, sondern in einer Gemeinschaft, die Hilfe und Zuwendung braucht. Was ich konnte , ob mit Kindern oder Büchern, habe ich gerne weitergegeben.“ Sie erinnert sich an zwei junge Geschwister, die sonntags monatelang kamen, um mit ihnen zu spielen. „Wir kannten ihren Hintergrund nicht, aber sie hatten Freude, hier zu sein. Solche Momente motivieren.“
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„Ich habe gelernt, loszulassen“
Nach Jahrzehnten sei es nun Zeit, den Jüngeren Platz zu machen. Bereits 2009 übergab Grote die Leitung des Büchereiteams an Angelika Neuhaus, mittlerweile abgelöst durch Christiane Grafe. „Es gibt im Leben immer Abschiede. Ich habe gelernt, loszulassen.“ Die Bücherei sei mit 20 Ehrenamtlichen gut aufgestellt.
Obwohl Angelika Geppert und Marlies Grote nicht mehr hinter der Ausleihe stehen, bleiben die Schwestern der Bücherei verbunden – als Leserinnen. Grote organisiert weiterhin das literarische Rendezvous, das jeden ersten Montag im Monat um 10 Uhr stattfindet. Einen Lobgesang, so betonen die Schwestern bescheiden, wollen sie nicht. „Wir haben es einfach gelebt.“
Öffnungszeiten der Bücherei, Stockumer Straße 13 in Annen: mittwochs von 10 bis 12 und 16 bis 18 Uhr, freitags von 16 bis 18 und sonntags von 10 bis 12 Uhr. Infos: https://www.bibkat.de/buecherei-annen/
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