Mülheim. Wie erlebte man als junger Mensch die NS-Zeit? Was passierte in Mülheim? Horst Heckmann (97) und Eva Timm (98) haben als Zeitzeugen die Antwort.
Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der NS-Zeit werden immer mehr zur Geschichte, die nur noch aus Büchern oder Filmen bekannt ist. Doch eine kleine Gruppe von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hält die Erinnerungen lebendig – auch in Mülheim. Mit Berichten und persönlichen Geschichten leisten sie eine unbezahlbare Arbeit, die weit über historische Fakten hinausgeht. Erst zuletzt wurde die ehrenamtliche Arbeit der Zeitzeugenbörse mit dem Heimatpreis bedacht.
„Man hat die Möglichkeit, Jugendlichen authentisch zu erzählen, wie man in deren Alter und in dieser Situation damals gelebt hat“, so Horst Heckmann. „Es geht dabei um die Veranschaulichung eines Lebens, unter Verständnis der Geschichte“, ergänzt Eva Timm. Ein Grundprinzip, ähnlich wie im Unterricht: Aus der Geschichte etwas lernen.
Die beiden ältesten Zeitzeugen der Mülheimer Zeitzeugenbörse berichten
Horst Heckmann, 97 Jahre alt, ist seit zehn Jahren als Zeitzeuge aktiv. Geboren 1928 in Mülheim, erlebte er die NS-Zeit als Kind und Jugendlicher. Ihm ist es wichtig, junge Menschen zu erreichen: „Die Jugend muss verstehen, dass Propaganda gefährlich ist.“ Als Mitglied der Hitlerjugend war er zunächst begeistert von der Kameradschaft und den Aktivitäten. Doch mit der Zeit wurde ihm klar, welche Ideologie dahintersteckte. Vieles habe er als Jugendlicher nicht hinterfragt. „Die Wahrheit kam erst später ans Licht – wie Schuppen fiel es mir von den Augen, als ich die Gräueltaten der Nazis erkannte“, so Horst Heckmann.
„Da standen Hunderte von Menschen rum und guckten. Und niemand hat etwas gemacht.“
Horst Heckmann ist Zeitzeuge der Mülheimer Geschichte während des Nationalsozialismus. Er war auf dem Weg zur Schule, als er am Morgen des 10. November 1938 die brennende Synagoge in Mülheim sah. In der Nacht zuvor hatte der städtische Feuerwehrmajor die Synagoge in Brand setzen lassen. „Es brannte lichterloh, und die Feuerwehr löschte nicht die Synagoge, sondern nur die Gebäude links und rechts – die Sparkasse und ein Geschäft. Aber nicht die Synagoge. Nicht die Synagoge“, erinnert er sich. Die Szenen, die sich ihm boten, waren erschütternd. „Da standen Hunderte von Menschen rum und guckten. Und niemand hat etwas gemacht“, sagt er mit Nachdruck.
Für Eva Timm, 98, ist ihre Arbeit auch ein Weg, persönliche Verluste und Erinnerungen zu verarbeiten. Seit einigen Jahren lebt sie schon in Mülheim und engagiert sich für die Zeitzeugenbörse. Geboren 1926 in Berlin, wuchs sie in einer politisch kritischen Familie auf. Besonders geprägt hat sie die Begegnung mit einem jüdischen Nachbarsjungen namens Hansi. „Er war ein paar Jahre jünger als ich, und wir mochten uns einfach. Dann war der Laden seiner Familie plötzlich zerstört, und Hansi verschwunden.“
„Es gibt Erinnerungen, die einen ein Leben lang nicht loslassen.“
Jahre später ließ sie für Hansi einen Stolperstein in Berlin legen. „Es gibt Erinnerungen, die einen ein Leben lang nicht loslassen.“ Hans Frost war der Sohn von Georg und Erna Frost. Er wurde am 23. April 1931 in Berlin geboren und war zum Zeitpunkt der Deportation zehn Jahre alt.
Eva Timm spürte immer wieder den Mantel des Schweigens, auch innerhalb der Familie. „Meine Mutter sagte manchmal zu meinem Vater: Be careful in presence of the child! Sei vorsichtig in Anwesenheit des Kindes!“ Kinder würden schnell mal etwas erzählen, unbedacht, und dies sei gefährlich. Einmal, da klingelte Eva Timm bei einem Nachbarskind und wollte spielen – an dem Tag, als das Attentat auf Hitler verübt wurde. „Ich sagte: Was? Ist er tot? Und da sagte sie, nein, und ich sagte laut, schade. Laut im Hausflur. Meine Mutter hört das. Sie war zufällig auch dort. Zieht mich rein und knallt mir eine. Ich habe selten mal was gekriegt, ich war ein braves Kind. Aber sie knallte mir eine und sagte: Du dummes Ding, das kann deinen Kopf kosten“, erinnert sich Eva Timm.
Warum die Zeitzeugenarbeit in Mülheim heute wichtiger denn je ist
Insgesamt gibt es zehn Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in dem Mühlheimer Verein, wobei die meisten jünger sind als Eva Timm und Horst Heckmann. Sie berichten von Erinnerungen aus der Nachkriegszeit. „Wir hatten mal eine schöne Lesung über die erste Anschaffung von Küchengeräten oder den Aufbau“, so Manfred Zabelberg, „aber über den Krieg selber sprechen, so wie die Beiden, das können wir nicht. Das wird es nicht mehr lange geben.“ Er selbst ist 70 Jahre alt und seit etwa acht Jahren ehrenamtlicher Zeitzeuge im Verein. Für ihn ist es die wichtigste Aufgabe, die Erinnerungen wachzuhalten – bei den jungen Menschen und Erwachsenen.
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